
Grizzly Bear - Yellow house
Warp / Rough TradeVÖ: 01.09.2006
... und Action!
Fred Astaire tanzt Wange an Wange mit Ginger Rogers und hebt sie über das glänzende Parkett. Charlie Chaplin spielt mit dem Erdenball Werfen und Fangen in furios-zarter Perfomance. Woody Allen und Diane Keaton sitzen zur nächtlichen Stunde an der Brooklyn Bridge und turteln wild und intellektuell wie zwei gescheite Täubchen. All diese großen Momente der Filmgeschichte wären nichts ohne die passende Musikuntermalung. Zeitlose Kunstwerke und Melodien, die völlig schmerz- und kitschfrei auf die Tränendrüse drücken, die den eigenen Körper in Schwung bringen, ein lautstarkes Lächeln erzeugen oder uns einfach wohlig entflammen lassen.
Grizzly Bear aus New York haben mitnichten den Anspruch, solche Momente der großen Gefühlsauschüttung zu erschaffen. Ihre vielschichtige und anfangs vielleicht verwirrende Baustelle bedarf eher einer haargenauen Inspektion. "Yellow house", das zweite Album der Bären, entstand im letzten Sommer in besagtem gelben Haus. Genauer gesagt: im Wohnsitz der Mutter von Sänger Edward Droste. Und auch hier gilt es zu spezifizieren: Das Wohnzimmer der Frau Mama wurde auserkoren, um den vielschichtigen Reigen "Yellow house" in rechte Bahnen zu leiten und auf Tonträger zu bannen. Zu hören ist von Drostes Erzeugerin auf dieser Platte nichts. Aber auch nichts von einem zerfahrenen und zerschossenem Lo-Fi-Album, das Produktion und abschließendes Mixing für Teufelszeug hält. Falls man das von einem solchen Wohnzimmer-Mitschnitt erwartet hätte.
"Easier" startet die Erkundungsrunde durch die gelben Räumlichkeiten. Flöten setzen an zum stangehaltenden Intro, elektronisches Einstiegsgewabber sagt "Hallo!", und ein uraltes Piano spielt den Walzer. Ein mehrstimmiger Chor, so lieblich, so hell, erhebt sich aus der Versenkung. Irgendwo klopfen da Mercury Rev und die Beach Boys an die Tür, aber niemand läßt sie hinein. Nein, hier entsteht etwas Eigenes, weitaus Robusteres. Der anfängliche Bombast ohne Rhythmus, der nur auf Wolken gastiert und träumerisch die Herzen erfreut und erweitert, findet sich plötzlich wieder im Folkgewand, vom kargen Banjo und der ebenso kargen Stimme Drostes begleitet. Auf und ab, auf und ab. Die Emotionen schlagen Wellen in dieser grandiosen Eröffnung zwischen grenzenloser Weitläufigkeit und erdig-akustischem Eigensinn. Das zauberhafte Wortspiel "Lullabye" als zweiter Song treibt den Hörer immer weiter hinein in diesen Traum, der mit epischen Melodien und unerschöpflicher Experimentierfreude den Genregrenzen den Mittelfinger entgegenstreckt. Gerne hätten wir eine kurzzeitige Verschnaufpause, aber die gibt "Yellow house" mit seinen ständigen Stimmungs- und Schnelligkeitswechseln einfach nicht her.
Mit trostlosen Streichern und balladeskem Gesang besingt "Marla" eine längst vergangene Zeit und mündet urplötzlich in einem Soundtrack der dreißiger Jahre. Da tanzt die russische Babuschka so durch die tristen Ghettos von Moskau, daß wirklich der letzte kühle Kauz da draußen sich mit Grazie in eine aufrechte Position wirft und mitmacht. Damit wird eines klar: Das hier ist kein Album mit einer Aneinanderreihung von schlichten Songs und Tracks. Regisseure dieser Welt, schaut und hört her: Dies ist ein Quell an Inspiration für Euch. Ein "Central and remote" sollte Tim Burton doch schnellstens zu einem weiteren Film zwischen Märchenhaftigkeit und der Faszination des endenden Lebens animieren. Hier wird die Filmmelodie vor dem Drehbuch geschrieben. Alles weitere im Programmkino Ihrer Wahl.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Easier
- Little brother
- Marla
Tracklist
- Easier
- Lullabye
- Knife
- Central and remote
- Little brother
- Plans
- Marla
- On a neck, on a spit
- Reprise
- Colorado
Im Forum kommentieren
Gordon Fraser
2025-03-08 18:44:30
Alles danach habe ich übrigens auch nie gehört, ein Fehler?
Also um "Shields" wäre es schon schade. War damals mein AdJ und halte ich bis heute für das stärkste Album der Band, vor "Yellow House". Beides ganz wunderbare Platten freilich.
Deaf
2025-03-08 18:40:36
Das Artwork ist ja sowieso super, hat noch etwa ein Dutzend weitere Fotos aus dem Haus im Booklet. Gänsehaut schon beim Opener, wenn diese Flöte ertönt.
carpi
2025-03-08 18:34:10
Möchte bestätigen, was Deaf zur Atmosphäre sagt. Vielleicht hat es auch etwas mit dem Album-Cover zu tun, aber man fühlt sich hier in eine andere Zeit und einen anderen Ort versetzt, hat für mich eine starke nostalgische Note, was in Reprise besonders zum Tragen kommt.
Gomes21
2025-03-08 17:38:42
Bei mir ist es tatsächlich umgekehrt, also ja, ich mag was danach kommt.
Deaf
2025-03-08 16:58:45
Die kenne ich nicht mal. Ich bleibe dabei: Veckatimest hat vorhin genau so wenig gezündet wie damals, die Yellow House kriegt mich aber immer auf Anhieb... Diese Stimmung ist einzigartig. Alles danach habe ich übrigens auch nie gehört, ein Fehler?
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