
Die Anarchistische Abendunterhaltung - Domestic wildlife
Radical Duke / PIAS / Rough TradeVÖ: 14.07.2006
Die versteckten Kameras
Belgien ist ein Staat von gerade einmal zehn Millionen Einwohnern. Das entspricht fast exakt der Größe von New York City. Mehr Gemeinsamkeiten haben beide Wohnräume auf den ersten Blick nicht, und doch sind beide Flecken Erde international für ihre florierende, völlig individuelle und einmalige Musikszene weltberühmt. Für einen bestimmten Wert von "Welt". In einer Ecke Belgiens namens Antwerpen haben sich jedenfalls irgendwann sechs Männer zusammengefunden. Benannt nach einer Hesse-Textstelle, bewaffnet mit Kopfteilen von Tierkostümen - zur Wahrung der Identität. Und mit Anzügen zur Wahrung des Stils. Die folgende Frage geht an all die Leser, die bisher noch nie etwas von Die Anarchistische Abendunterhaltung gehört haben: Wie klingt die Musik gerade in Ihrem Kopf, nachdem Sie nun all das gelesen haben?
Könnte es sein, daß bei Ihnen eine Mixtur aus Franz Ferdinand, den Strokes und niederländischsprachigem Punk im Kopf herumschwirrt? Schnell hinfort mit diesem Gedanken. Denn Die Anarchistische Abendunterhaltung haben mit Pop im gebräuchlichen Sinne, haben mit Pop in der Eigendefinition von Pop, mit Pop im Sinne von emanzipierter Trivialität, nichts zu tun. Die Belgier kreieren in jedem ihrer Stücke einen völlig anderen Sound.
Man könnte die Kombo aus Antwerpen für eine Jazzband halten, würde man sie kurz vor einem Auftritt mit ihren Instrumenten auf der Bühne stehen sehen: in sich gekehrt, konzentriert. Cello, Violine, Akkordeon, Klarinette, Kontrabaß, keine Gitarre. Kaum spielt die Band los, könnte man sie erst recht für eine Jazzcombo halten. Und läge doch genauso falsch wie zuvor. Richtig, Die Anarchistische Abendunterhaltung haben Untertöne, die irgendwo jazzy sind, doch die hohe Progressivität der Stücke erinnert mittlerweile viel mehr an Komponisten wie Arvo Pärt auf harten Drogen. Auch im Vergleich zum Vorgänger "Tub gurnard goodness" ist alles anders. Der Anteil traditioneller jüdischer Klänge ist um einiges größer geworden. Auch hier wieder eine NYC-Antwerpen-Parallele: An beiden Orten befindet sich jeweils eine der größten außerisraelischen jüdischen Gemeinden der Welt. Die Anarchistische Abendunterhaltung lassen das in ihre Musik einfließen, ohne dabei albern zu wirken, gewinnen der jüdischen Musik Wunderbares ab, verarbeiten es.
Woher der Wandel? War die Gruppe beim Vorgänger noch zu viert, ist sie nun zum Sextett herangewachsen. Und auch der elektronische Anteil in jedem dieser völlig für sich stehenden Stücke ist leicht gestiegen, nie wirklich auffällig oder störend, frei von jeglichem Klischee. Die Anarchistische Abendunterhaltung, die ihrem Namen mehr denn je alle Ehre macht, löst sich von gängigen Rastern und gemachten Kompromissen. Für die ist ohnehin keine Zeit. Deshalb ist "Nowhere beach" zuerst auch so tanzbar. Anfangs ein lupenreiner Klezmer, entwickelt sich das Stück zu einem erbitterten Kampf zwischen Violine und Klarinette, bis dann irgendwann die Synapsen völlig durchbrennen. Dann erzeugen die Männer ein Noise-Gewitter, das verdeutlicht, wieso E-Gitarre und E-Baß etwas für Kinder sind. Ähnlich das seinen Titel zurecht tragende "Wish you were hit": Gänsehautschauer überall. Oder das wunderschöne und tieftraurige, aber zugleich eine Aufbruchsstimmung vermittelnde "Tropic of cancer". Regisseure, bedient Euch.
Werte Leser, machen Sie sich auf etwas gefaßt! Sollten Sie freudig etwas im Sinne von dEUS oder dem Rest der Antwerpen-Clique erwarten, seien Sie hiermit in aller Deutlichkeit gewarnt. Die Anarchistische Abendunterhaltung machen keine Musik für irgendwelche Liebhaber. Diese Musik sucht sich ihre Hörer quasi selbst aus. Es wird Ihnen einiges abverlangt werden. Sie müssen für Jazz '06 offen sein, und auch einen Greuel gegenüber jüdisch-osteuropäischen Klassik-Klängen dürfen Sie nicht hegen. Wenn Sie aber vor lauter Schwermut beim Hören irgendwann bei der dritten Flasche belgischen Rotweins angelangt sind, verstehen Sie auch, warum wir es hier mit "Domestic wildlife" zu tun haben.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Domestic wildlife
- Wish you were hit
- Tropic of cancer
- Aufhören
Tracklist
- Lounja la gazelle
- Domestic wildlife
- Rabbit eye movement
- Dispositioning system
- Pedanterie
- Wish you were hit
- Tropic of cancer
- Aufhören
- Highway tiger
- Nowhere beach
- Lost soles
Referenzen
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