Scott Walker - The drift

4AD / Beggars / Indigo
VÖ: 05.05.2006
Unsere Bewertung: Ohne Bewertung
0/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10
9/10

The sun ain't gonna shine anymore

Kann bitte mal kurz jemand meine Hand nehmen? Mir ein wenig Lebenssinn spenden und dieses tiefdunkle Loch vor meinem geistigen Auge für immer verschwinden lassen? Kann mir jemand mal sagen, daß alles gut wird? Daß es nur eine Momentaufnahme war und dies hier nicht die Wahrheit sondern eigentlich nur Musik ist? Nach dem Hören von Scott Walkers erstem musikalischen Lebenszeichen seit nunmehr zehn Jahren stellt sich beim Hörer schnell ein Gefühl der Resignation ein. "The drift" heißt dieses Album - und es führt schnurstracks in den Abgrund. Wer es geschafft hat, diesem Album bis zum Ende zu lauschen, dem schiebt sich gleichsam eine schwarze Wolke vor die Stirn. Sie verdunkelt den Blick für die Beantwortung der Frage, ob dieses Album nun ein Geniestreich oder nur ein Horrorstreifen von billigem Charakter ist.

Es bräuchte Jahre, um am Ende (eventuell) ein Bewunderer der Soundkunst von Scott Walker werden zu können. Derer hatte der Albumvorgänger "Tilt" von 1995 einige. Der prominenteste unter ihnen ist wohl David Bowie, der auch beim neuen Album die Finger im Spiel hat. Vor "Tilt" jedoch war lange nichts um Walker geschehen, was die Welt der Populärkultur hätte in Aufruhr versetzen können. Ein Leben als Skizze: Mitte der Sechziger Jahre startete Scott mit den Walker Brothers und dem Welthit "The sun ain't gonna shine anymore". Dieses programmatische Motto zog sich danach wie ein ewiger Fluch durch das Leben des heute 63-Jährigen. Seine Karriere bescherte ihm von 1967 an mehrere Soloalben. "Scott 1" bis "Scott 4" heißen die, was schon ein subtiler Hinweis dafür ist, daß es dem guten Scott Walker an Egozentrik wohl damals nicht mangelte. Dies gipfelte in den Siebzigern in übermäßigem Alkoholkonsum. Bis 1995 "Tilt" kam. Doch was sollen all diese Fakten? Sie dienen nicht der Beweisführung. Sie verschaffen noch immer keinen gesicherten Einblick in die ästhetische Wertigkeit dieses dunklen Konvoluts von Tränen und Ohnmacht. Ist "The drift" noch Pop? Nicht im geringsten. Und warum schreiben wir hier darüber? Weil es irgendwann populär werden könnte.

Wie die Songs des Vorgängeralbums sind die zehn Lieder des neuen Albums gotische Gesamtkunstwerke. Ein Spiegel der amerikanischen Befindlichkeiten nach dem 11. September. Gepeinigtes Ego, gefürchtete Zukunft. Dunkel, voller Angst vor den Kriegen, die da kommen. Müßte man diese Stücke malen, würde man wie Pieter Bruegel oder Hieronymus Bosch den Pinsel über die Leinwand schwingen. Und man würde vor lauter dunklen Farbstrichen auf diesem Album das einzige kleine Elend nicht erkennen, den Tod nur als großes Ganzes erhaschen. Darum geht es. Und genau deshalb macht es an dieser Stelle kaum Sinn, einen einzelnen Song zu thematisieren. Wie um Himmels Willen ein Album rezensieren, das von der Hölle singt, das Dich runter zieht und am Ende mit offenem Mund stehen läßt? Und was dieser offene Mund sagen will? Keine Ahnung. Gebt uns ein paar Jahre Zeit. Oder ruft David Bowie an.

(Sebastian Peters)

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Highlights & Tracklist

Highlights

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Tracklist

  1. Cossacks are
  2. Clara
  3. Jesse
  4. Jolson and Jones
  5. Cue
  6. Audience
  7. Buzzers
  8. Psoriatic
  9. The escape
  10. A lover loves
Gesamtspielzeit: 68:50 min

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Unangemeldeter

2024-11-28 09:32:21

@Lordran: man muss die Dunkelheit von The Drift aushalten können. Lachen halte ich da nur für einen Schutzmechanismus. Das ist wie bei Leuten, die während Horrorfilmen labern müssen um ihre Anspannung loszuwerden.

Auf The Drift haben die von dir angesprochenen Soundeffekt-Elemente meiner Meinung nach noch wunderbar gepasst und funktioniert. Die Geräusche von Steinen auf Fleisch in dem Song über Mussolini (Clara) sind genial und machen den vielleicht düstersten Song den ich kenne noch beklemmender. Hör den mal nochmal mit Kopfhörern und sag mir dass du den nicht fühlst. Ab ca. Minute 7 (dem Swallow-Teil), wo es sich dann langsam wieder steigert, bis zum Finale und der ernüchterten Coda ist das eins der großartigsten Stücke Musik die ich kenne. The Feels!

Auf Bish Bosch würde ich dann schon teilweise zustimmen, da kommt mir auch einiges wie leere Effekthascherei vor - da hätte er sich vielleicht lieber auch mehr Zeit mit gelassen.

Sloppy-Ray Hasselhoff

2024-11-27 23:32:41

Wut und Aggression und süffisante Triebdynamik führen ins Nirgendwo. Ich mag die Pseudo-Scheiße in den Rezis von Sennfelder auch nicht. Sag ich´s ihm? Nein. Lass doch die Menschen in ihren Gehirnen weiterleben, ohne sie anzubatzen. Manche mögen Scott Walker, andere nicht. Ich verrate dir ein Geheimnis: Soll vorkommen.

Lordran

2024-11-27 23:07:37

Warum hört man sich so etwas freiwillig an?
Sehe Walker da eher, wie er sich kaputt lacht, wenn pseudo-intellektuelle aus diesem grauenhaften Krach versuchen irgendeine Bedeutung herauszuhören.
Schweinehälften, schreiende Esel und Donald Duck-Stimmen. Könnte auch ein Sketch von Hape Kerkeling sein. Hurz!

Vorfahrt92

2024-11-27 21:22:38

Eine fast sakral zu nennende Figur ist er tatsächlich bis heute geblieben, die, in gewissen Kreisen relevant, abgöttisch verehrt, verbreitet und diskutiert wird. Aber wir sprechen hier von Eremiten letzter elitärer Zirkel, um nicht zu sagen: Gegenwelten, deren Existenz kaum noch jemand interessiert oder auffällt. Nur meine Meinung.

humbert humbert

2024-11-27 20:36:26

Scott Walker ist für mich einer der größten Musiker. Vor allem nach seinem Tod habe ich gemerkt, welche Lücke er musikalisch hinterlassen hat. Wenn ich manchmal seine Musik höre werde ich auch etwas wehmütig. Einfach das Wissen, dass diese Stimme für immer verstummt ist.

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