Morning Runner - Wilderness is paradise now
Parlophone / Capitol / EMIVÖ: 28.04.2006
Hellwach
Es gibt Menschen, die müssen unfreiwillig dabei sein, wenn der Morgen den Staffelstab aus den nächtlichen Pranken übernimmt: schlurfende Zeitungsausträger. Wankende Partyheimkehrersilhouetten. Erfolglose Einbrecher. Besitzer von Hunden mit Blasenschwäche. Es gibt aber auch Menschen, die wollen allen Ernstes freiwillig so früh schon auf den Beinen sein. Und noch mehr: Die wollen um eine Uhrzeit, zu der sich der gewöhnliche Schläfer gerade nochmal genüßlich umdreht, ihre Beine sogar schon sportiv bewegen. Ihre Motivation kann nur einen Namen haben: Endorphine - diese possierlichen körpereigenen Lustmoleküle, die nach qualvoller Laufzeit plötzlich eruptiv in Erscheinung treten, hellwach machen, Energie verleihen und eine Art Glücksgefühl hinterlassen.
Morning Runner, vier Jungs aus der englischen Festivalstadt Reading, eröffnen mit genau so einer Endorphin-Eruption ihr Debütalbum. Und es folgt eine alles andere als qualvolle Laufzeit. Gut vierzig Minuten grob gewebter Bombast-Britrock mit lieblich gehäkeltem Piano-Patchwork, das auch Coldplay oder Keane von der Nadel hätte rutschen können. Die Band um Matthew Greener - der ein wenig nach einem echauffierten James Walsh klingt - durfte schon Bloc Party, Ian Brown, Athlete und, jawohl, Coldplay supporten. Chris Martin schwärmt von "Wilderness is paradise now", als handele es sich um seinen neugeborenen Sohn Moses. Zum Glastonbury Festival wurde das Quartett letztes Jahr auch schon eingeladen, die englische Musikpresse überschlägt sich, und BBC-Radio-DJ Steve Lamacq lobhudelt mal wieder etwas von wegen "my new favourite band".
Bei derartig hypegedüngten Lorbeeren ist der kritische Musikfreund natürlich erstmal skeptisch. Können Morning Runner tatsächlich mehr als nur Luftmaschen häkeln? Oh ja. Auch wenn man das Muster schon irgendwoher kennt. "It's not like everyone's my friend" startet mit brachial-emotionalen Gitarrenriffs, die schließlich von einem buddhistisch ausgeglichenen Klavier zur Ruhe gerufen werden. "Let's write a story / You can have the main part / I'll be the tree in the background, babe / To shade you and your heart." Kamen dieses Jahr schonmal auch nur annähernd so rührende Zeilen aus dem Vereinigten Königreich? Und es geht ja noch weiter: "Let's write a movie / You can have the main role / I'll be the cameraman, darling / Take pictures of your soul." Diese Bittersüße, diese melancholisch gefärbte Euphorie, diese Hymnik, dieses scherenschnittidyllische Coverartwork! Aber auch ein bißchen: Dieses stets wiederkehrende Himmelhochjauchzendzutodebetrübtkonzept, inspired by the artist formerly known as Pubertät. Hach!
"Have a good time" experimentiert im abgedunkelten Labor mit Reibungswärme, schüttet reichlich Vier- und Sechssaitiges ins Reagenzglas, während Versuchsleiter Greener nebenbei vollkommen unweinerlich die Belastbarkeit seiner Stimmbänder testet. Wissenschaftliche Deutungen sind dem nachfolgenden Stück völlig schnuppe: "Gone up in flames" wirft sich fidel wirklich jedem an den Hals, der einen hat. Das ist nämlich einer dieser, pardon, geilen Britpop-Hits, die einfach immer funktionieren. So auch "Burning benches", das zunächst ein wenig an Kuschelpianopfuscher Richard Clayderman und dann sehr an Coldplays "Yellow" erinnert, sogar die gleiche Harmoniefolge besitzt. Und die gleichen rhythmischen Leierbündchen. Allerdings kommt es bei Morning Runner noch zu einer hübschen Explosion.
Jazzy federnd und unaufdringlich meditativ kommt "Hold your breath" daher, und Chris Wheatcroft - genannt "Fields" und bei Morning Runner hauptsächlich für den pianistischen Wohlklang zuständig - schüttelt mal eben ein Saxophonsolo aus dem multiinstrumentalen Ärmel. Die ruhige Klaviernummer "Oceans" will zwar nicht so ganz in die Gänge kommen, dafür erobert immerhin der Gitarrengalopp "The great escape" die Gehörgänge. Wenn auch nur kurz. "Be all you want me to be", "Work" und "Best for you" verdeutlichen das bedauerliche Innovationsgefälle zwischen der beinahe unschlagbaren, fast perfekten ersten Albumhälfte und dem nur leicht überdurchschnittlichen Rest, der mit "Punching walls" immerhin noch ein passables Kurzzeitlieblingslied in petto hat. Für eine Tagesration Endorphine sorgen Morning Runner jedoch allemal. Und man muß dafür noch nicht mal früh aufstehen. Höchstens einmal. Wenn der Postbote klingelt, um das Hormonpräparat aus Reading zu liefern.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Have a good time
- Gone up in flames
- Burning benches
- Hold your breath
Tracklist
- It's not like everyone's my friend
- Have a good time
- Gone up in flames
- Burning benches
- Hold your breath
- Oceans
- The great escape
- Be all you want me to be
- Punching walls
- Work
- Best for you
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Max der Musikliebhaber
2022-10-22 00:01:02
Same. Nicht zuletzt dank seiner Dynamik verstand er es, schnell bei mir hängen zu bleiben. Auch für mich ein absolutes Album-Hilight. Obwohl ich den Song schon ziemlich oft gehört habe, macht es mir immer noch Spaß, ihm zu lauschen. :)
kingsuede
2022-10-21 22:16:35
Burning Benches war schon ein Hit.
Max der Musikliebhaber
2022-10-21 21:49:16
Passend zum Namen der Band, startete ich heute Morgen mit ihrem Album in den Tag, nachdem ich es für längere Zeit links liegen gelassen hatte. Ich genoss es und bedauerte zugleich, dass sich die Band schon so früh selbst beerdigt hat.
musie
2009-08-27 11:55:02
die hab ich gesehen am fib in benicassim morgens um 03.30h in einem berg voll müll, die band konnte kaum mehr gerade stehen/singen.. :-)
am folgetag ereilte the rakes zur selben zeit das selbe schicksal, welches schliesslich auf spidermanscootern um 06 uhr am meer endete...
hach, erinnerungen...
Gordon Fraser
2009-01-30 16:52:30
Ein tolles Album. Das da nichts draus geworden ist... ewig schad'.
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- Morning Runner - Wilderness is paradise now (26 Beiträge / Letzter am 22.10.2022 - 00:01 Uhr)