Ray Davies - Other people's lives
V2 / Rough TradeVÖ: 17.02.2006
The observer
"Britpop: Who's the true daddy?" würde das Boulevard-Schmierblatt "The Sun" titeln und etwas von einer bildhübschen Mutter und einer ganzen Reihe möglicher Erzeuger fabulieren. Irgendwo wäre dann ein Foto von Damon Albarn zu erspähen, darunter ein leidenschaftliches Plädoyer für "true daddy" Ray Davies; fett und kursiv gedruckt die Wörter "The Kinks", "Waterloo sunset", "Lola" und "You really got me". Liam und Noel Gallagher würden sich auch ein "Nice one!" abringen - immerhin lieferten Ray und Dave Davies ein 1A-Vorbild zum bruderzwistigen Bandgefüge. Über dreißig Jahre lang. Wenn auch Bandalter und Erfolg der Kinks eher in antiproportionalem Verhältnis zueinander standen.
1998 veröffentlichte Ray Davies ein Livealbum namens "The storyteller", auf dem natürlich auch ins Kinks-Schatzkästchen gegriffen wurde. Im Sommer 2003 griff die Queen in ihr Ehrungs-Schatzkästchen und ernannte ihn zum "Commander of the British Empire". Anfang 2004 griff in Sir Rays temporärer kreativer Wahlheimat New Orleans ein Dieb in das Handtaschen-Schatzkästchen seiner Begleiterin. Natürlich eilte Davies sogleich zu Hülf - und prompt wurde ihm ins Bein geschossen. Auch diese Begebenheit wird er eines Tages geschmackvoll in einen Song transformieren. Der Herr aus dem Londoner Stadtteil Muswell Hill ist und bleibt ein erstklassiger Beobachter, Geschichtenerzähler und Texter.
"Things are gonna change / This is the morning after." Ray Davies' erstes richtiges Soloalbum beginnt mit einer klaren musikalischen Ansage: Es geht hier nicht um eine magere Nachlese längst eingefahrener Lorbeerernten. Der Verstärker verstaubt ebenso wenig wie die Akustikgitarre. Es rockt, es bluest, auch ein Saxophon gesellt sich gelegentlich hinzu. Alles, wofür man die Kinks lieben konnte, ist immer noch da. Und noch viel mehr: Der Titeltrack wird von Flamenco-Klängen umschmeichelt. Genau so muß es sich anhören, wenn man mit einundsechzig noch von jugendlich frischer Songwriterpotenz gesegnet ist. Seit Anfang des neuen Jahrtausends lief die Studie über "Other people's lives" - es wurde kreiert, verworfen, gefeilt, perfektioniert. Und natürlich beobachtet - unter anderem der "Next door neighbour". Akustikgitarre und Bläser untermalen charmant die Anekdoten zu Mr. Jones, Mr. Brown und Mr. Smith. Die großen Abgründe des kleinen Mannes - Ray Davies hat ein Ohr für die bittersüßen Symphonien des Alltags.
"Don't turn into a total embarrassment to your friends and family!" Davies' Anti-Lethargie-Hymne "Is there life after breakfast?", in lieblich-wiegendem, akustikgitarrenlastigem Kinks-Sound, hätte das Drehbuch zu "Trainspotting" komplett umschreiben können. Ein kräftiger Tritt in den Hintern - wenn auch mit Filzpantoffeln. Manchmal würde man sich wünschen, daß "Other people's lives" noch etwas überraschender verläuft - dieser Gedanke wird aber spätestens vom großartigen "Stand up comic" verworfen. Und zwar zugunsten dieser einen Frage: Kennt Ray Davies Mike Skinner? Ein hyperaktives Schlagzeug und Bossa-Nova-Sound begleiten den Stand-Up-Comedian "Johnny Old England" und dessen Spoken-Word-Ausführungen "all about your culture", die stets mit "and that's that" enden.
"Over my head" ist schließlich die harmonische Aussöhnung mit dem Alltag, der Umwelt und vor allem mit sich selbst - die Vollendung des im Opener angekündigten Veränderungsprozesses. Und das Happy End hat sogar noch einen herausragenden Hidden Track im Gefolge: "Thanksgiving Day" - mit Groove und Gospelchor. Ray Davies ist nicht nur - nach wie vor - einer der größten Songwriter des Vereinigten Königreiches, einer der "true daddies of Britpop" und ein geistreicher, lakonischer und nicht selten herrlich zynischer Protokollant. Sondern er besitzt auch die besondere Gabe, während des Schreibens nicht stehen zu bleiben, sondern weiter zu laufen. Sogar mit angeschossenem Bein. And that's that.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Next door neighbour
- Stand up comic
- Over my head
Tracklist
- Things are gonna change (The morning after)
- After the fall
- Next door neighbour
- All she wrote
- Creatures of little faith
- Run away from time
- The tourist
- Is there life after breakfast?
- The getaway (Lonesome train)
- Other people's lives
- Stand up comic
- Over my head
Referenzen
Spotify
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