Jenny Wilson - Love and youth

Rabid / Cooperative / V2 / Rough Trade
VÖ: 27.01.2006
Unsere Bewertung: 6/10
6/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Das kunstseidene Mädchen

Fast möchte man ihr auf den buschigen Fellkragen am Hals tippen, sie zu sich herüberziehen und ihr ins Ohr raunen: "Hey, Jenny! Dir klebt da was im Gesicht." Grelltürkise Schminkeflächen scheinen ihre Stirn zu verkleistern. Doch dann besinnt man sich. Zum einen, daß man lediglich ein Foto vor sich hat. Und einem Foto raunt man nichts ins Ohr. Fotos kann man auch nicht auf den buschigen Fellkragen tippen. Zum anderen, weil sich die Vermutung ins Bewußtsein schleicht, daß Jenny Wilson sich ganz bewußt dafür entschieden hat, eine fraktale Pigmentschlacht über ihren Augenbrauen zu veranstalten. Bei genauerem Hinsehen ist es sogar nur nachträglich hineingetuscht. Vielleicht ist es Teil ihres Konzepts? Denn "Love and youth" ist laut Wilsons Eigenaussage ein Konzeptalbum, bei dem - par bleu, welch Überraschung! - Liebe und Jugend den roten Faden spinnen. Das Coverbild als Reminiszenz an jugendliche Schminkversehen? Die Wissenschaft rätselt noch.

Drang und Anspruch, etwas Besonderes zu sein und zu vollbringen, scheinen die Dreißigjährige aus Südschweden seit früher Jugend munter zu durchsprudeln. Zur großen Kunst gehören auch ein Hauch von Mystik und Abgrund. Entsprechend umweht ihr Titelbildkonterfei ein unnahbarer Hauch von divenhafter Morbidität – nicht ohne Grund schwärmt sie für PJ Harvey, ihr Idol, von dem sie sich gleichermaßen zu lösen sucht. Wie "Das kunstseidene Mädchen" (Irmgard Keun) reißt sie früh von zu Hause aus. Lieber Nerz tragen als auf einer Nerzfarm arbeiten, bloß nicht auf einem Bauernhof unter Kuheuter kriechen oder als Krankenschwester den Nachttopf wechseln. Luxus? Kein Problem. Auf der Suche nach Sinn und sich besucht sie Schriftstellerkurse, studiert kurzzeitig an der Stockholmer Kunsthochschule und erarbeitet sich mit ihrer Band First Floor Power ab 1997 kleine Meriten in schwedischen Indie-Kreisen. Und doch war es scheinbar zu viel künstlerischer Kompromiß. Sie möchte ihren Weg lieber auf eigene Faust weiter bestreiten mit dem Ziel, etwas Ureigenes zu kreieren. Ihren ganz eigenen Ton finden.

Eigensinnig und eigenartig ist auch die Musik geworden, die der Findungsphase entsprungen ist. Vielseitig und vielschichtig schillern die Songs ihres Debüts. Ein janusköpfiges Album. Auf der einen Seite gibt es die verträumte, melancholische Jenny, die in fast kammermusikalischer Intimität sanft ins Mikro haucht. Dazu plinkert im Hintergrund das Klavier im Diskant, ein Fender Rhodes unterfüttert sparsam mit schwummerigen Akkorden, Harfen zupfen goldglitzernde Arpeggien, mehrstimmige Chöre raunen watteweiche Klangwolken. Abgeklärt und erwachsen segelt sie durch ausgefeilte, akustische Arrangements. Ein bißchen Folk, ein Hauch von Jazz, lasziv, ein wenig verrucht.

Und dann ist da noch das kleine, überdrehte Mädchen in ihr, der Spaß an bonbonbunter Popmusik. Dann ist alles Plastik, hier ist nichts biologisch abbaubar. Whatever happened to the 80s: Hier leben sie putzmunter weiter. Da pluckert's und fiept's im Hintergrund, verhallte Synthies wabern, Keyboardschwaden flirren. Plötzlich turnt ihre Stimme in weitaus höheren Lagen. Sie jodelt im zweiten Futur nach Sonnenaufgang, schickt ihre Stimme durch orientalisch anmutende Melismen, quietscht sich mit einem Timbre zwischen Kate Bush und Verona "Ex-Feldbusch" Pooth durch die wiggeligen Nummern. Das zerrt ein wenig an den Nerven, wirkt ein wenig überladen, klingt zuweilen nach Dresden Dolls für "Hello Kitty"-Fans. Mittendrin glaubt man kurz, die frühe Tori Amos würde zur Tür reinschneien, um rasch "Hallo" zu sagen. Und aus der Ferne grüßt das "Material girl". Girls wollen schließlich auch fun haben.

Ein Album zwischen traumverlorener Kontemplation und surrenden Plastikhummeln im Hintern. Zwischen Rotwein und Fanta-Korn. Noch scheint Jenny Wilson auf der Suche, schlingert zwischen Reife und Jugendnostalgie. Abermals möchte man ihr auf den Fellkragen um den Hals tippen und ins Ohr raunen: "Wenn Du weiter Deinen Ton suchst, konzentrier Dich auf die ruhigen Momente. Dann kann das durchaus was Großes werden."

(Ole Cordsen)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Those winters
  • Would I play with my band?
  • Common around here

Tracklist

  1. Crazy summer
  2. Summertime - the roughest time
  3. Let my shoes lead me forward
  4. Those winters
  5. Bitter? No, I just love to complain
  6. Would I play with my band?
  7. Love and youth
  8. A hesitating cloud of despair
  9. Love ain't just a four letter word
  10. Common around here
  11. Hey what's the matter?
  12. Balcony smoker
Gesamtspielzeit: 47:33 min

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