Rauhfaser - Netropol

Marlboro / BMG
VÖ: 18.09.2000

Tapetenwechsel

"Jeder Tag ist wie ein Spiel." Zam Helga, ehedem Sänger der Helga Pictures, spielt dieses Spiel zwischen Lust und Glamour schon einen ganze Weile mit. Durch "Die Schöne und das Biest", vor einem Jahr ein heimlicher Radiohit, hielt sein abgründiger Hedonismus Einkehr in die deutschsprachige Popmusik jenseits von Schlager, HipHop und Neuer Deutscher Härte. Rauhfaser bewiesen, daß sich glitzerndes Chrom, ausgetüftelt elektrifizierte Arrangements und sehnsuchtsvolle Klangbilder nicht immer ausschließen müssen. Der neurotische, aber dennoch verführerische Klang von Helgas Stimme und das dazugehörige Video mit Udo Kier als psychopathischen Ladykiller taten ihr übriges.

Mit Neurosen bewaffnet machte sich der Dreier auch an die Produktion von "Netropol". "Was weißt Du schon?", wirft Helga gleich zu Anfang auf. Er kennt sich aus mit Einsamkeit, Trauer und Sehnsucht und läßt uns daran teilhaben. Die Abhängigkeit von Mensch und Maschine zeigt sich nicht nur im Klang, sondern wird in Songs wie "Rosalina" oder "Online Junkie" thematisiert. "In einem Land dort hinter siebentausend Knotenpunkten / Fängt die wahre Sonne an, durchs Dämmerlicht zu funkeln" Zwischen Barcodes, Neonlicht und Plastikfolie warten allerlei menschliche Abgründe nur darauf, in Zeilen gewickelt zu werden.

Das recht eigentümliche Knistern der rauhfaserschen Erotik läßt sich zwischen den ersampleten Strukturen immer wieder erkennen. Für die Erdung sorgen verspielte Gitarrenspuren und vor allem die schwelgerische Stimme. Melancholie, Verlangen und Sehnsucht spiegeln sich in den besseren Momenten von "Netropol" gegenseitig wider. Wenn auch nicht immer die passenden Worte dafür gefunden werden, schrammt Rauhfaser dennoch zumeist am Kitsch vorbei. Der Himmel ist nur manchmal voller Plastikgeigen. "Eine halbe Ewigkeit sah ich in Deinen Augen / Den Widerschein der Illusion, für die Du mich hältst" Eine Gänsehaut kann sich auch unter Lack und Leder bilden.

(Oliver Ding)