Kettcar - Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen

Grand Hotel van Cleef / Indigo
VÖ: 07.03.2005
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Erste Person Plural

Ein kleiner Blick hinter die Kulissen von Plattentests.de und dessen ungeschriebenen Gesetze. Ganz weit oben auf der Liste der No-Nos und Don'ts steht geschrieben: "Kettcar-Zitate als Überschrift benutzen." Und doch passiert's ab und an. Wer will es uns auch verdenken? Schließlich ist jeder Satz aus der Kehle von Marcus Wiebusch wie in Stein gemeißelt, zusammen ein ganzer Berg voll kleiner Felsen. Doch dieses Geröll kann man überall hin wegtragen und fallen lassen. Und überall tut's weh. Vorhin erst noch kam eine E-Mail rein mit Empfehlungen für diese Rezension: "Vermeide wenn möglich Sachen wie 'Identifikation' oder 'aus der Seele sprechen'. Sonst rollt Marcus wieder mit den Augen." Und das mit der Überschrift auch nicht vergessen.

Zu spät. Da steht es schon obendrüber, der Schnipsel aus "Deiche". Und mit dem Opener ist es auch schon wieder geschehen, das große Wir-Gefühl. "Ein Volk steht wieder auf, na toll / Bei Aldi brennt noch Licht / Du weißt, Deiche brechen richtig / Oder eben nicht." Deutschland rückt zusammen, krempelt die Ärmel hoch, spuckt in die Hände. Und überhaupt geht ein Ruck durch alles und jeden. Den wollen auch Kettcar beschwören und machen so auch den seltsam anmutenden Titel "Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen" verständlich. Es geht ums Haben und Verlieren, nur ums Gewinnen selten. Um eine grundsätzliche Haltung, die man dem Sein gegenüber einnimmt. Die ihrige ist: Wir beklagen das Jetzt und erwarten hoffnungsfroh das Morgen.

In der Zwischenzeit flattert sie oft genug vom Dach, die Taube. Die erste Single "48 Stunden" macht Vorwürfe. Wegen einer Entscheidung gegen die Liebe, zugunsten eines doofen Jobs in der neuen, weit entfernten Stadt. Sehen so die Entscheidungen von heute aus? Das Gefühl bleibt auf der Strecke, man will einfach weg und strebt die große Reinigung an. In "Die Ausfahrt zum Haus Deiner Eltern" endet der Weg fern von Hamburg. Die alte Phantasie, das Ziel zu verfehlen und zu fahren, fahren, fahren, bis zum nächsten romantischen Platz, die hatten wir ja alle schon mal. Nur noch nie ausgelebt. Bei Kettcar ist sie zum Lied geworden.

"Ein bißchen bitter oder wirklich schwer" schmeckt dann auch "Tränengas im High-End-Leben". "Balu" wuchert mit zynischem Humor und der jetzt schon legendären Zeile "Du bist New York City / Und ich bin Wanne-Eickel." Sowas kommt davon, wenn man zuviel mit Olli Schulz abhängt und sich von dessen irren Ideen anstecken läßt. Anders läßt sich auch "Stockhausen, Bill Gates und ich" nicht erklären, bei dem der herzerweichende Kindergartenchor das einzige ist, was sich verstehen läßt. Als ob sie uns ein Bein stellen wollten zwischen so vielen "Jawoll"-Lyrics und "Ich auch"-Sätzen. Denn der Rest jener geschilderten Nacht im Fahrstuhl mit Bill Gates, Karlheinz Stockhausen und dem wichtigsten Finger von Carlos Santana ist Mumpitz. Aber was für einer.

Mit "Handyfeuerzeug gratis dazu" kommt es dann ganz dicke. Fast schon ein Abgesang auf die Welt ist das, zumindest aber auf die Plattenfirmen und alle nimmersatten, gefräßigen Monster: "Die böse, fiese Welt verbrennt / Und zwar achtfach weitersteigend / Alles ist aus Klang entstanden / Die Töne werden bleiben." Die nicht geglaubte Versöhnung folgt doch noch, mit "Nacht". Wie die Ruhe nach dem Sturm, wie das erleichterte Aufräumen nach einer Party, die sich Leben nennt. Man delektiert sich an den Überresten. "Meine Welt aufgehoben / Meine Welt in drei Wörtern erklärt."

Natürlich will man fragen: Sag mal, Marcus, was gibt es da eigentlich zu jammern? Krieg ist schlimmer. Uns geht's doch gut. Und Euch erst recht. Schließlich haben sich Kettcar zu einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Indie-Rock-Band gemausert und werden mit "Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen" ihren Status sicher festigen. Aber was soll das schon heißen: festigen? Ein Schimpfwort? Sicher kann man ihnen vorwerfen, daß man ihr zweites Album stilistisch nicht mal in Ansätzen vom ersten unterscheiden kann. Oder auch, daß die ganz offensichtlichen Hits fehlen, wie es auf "Du und wieviel von Deinen Freunden" noch "Im Taxi weinen" und "Landungsbrücken raus" welche waren. Aber will man das? Oder sich nicht doch lieber erfreuen an so viel, ja das ist es, Identifikation und Aus-der-Seele-Sprechen? Und Texten wie gemeißelt, die sich überall hin schleudern lassen? Freut man sich da nicht? Wer schuldig ist, der werfe den ersten Stein.

(Armin Linder)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Die Ausfahrt zum Haus Deiner Eltern
  • 48 Stunden
  • Stockhausen, Bill Gates und ich

Tracklist

  1. Deiche
  2. Die Ausfahrt zum Haus Deiner Eltern
  3. 48 Stunden
  4. Einer
  5. Tränengas im High-End-Leben
  6. Balu
  7. Stockhausen, Bill Gates und ich
  8. Anders als gedacht
  9. Die Wahrheit ist, man hat uns nichts getan
  10. Handyfeuerzeug gratis dazu
  11. Nacht
Gesamtspielzeit: 41:15 min

Im Forum kommentieren

revilo

2023-10-17 14:03:11

Mal ehrlich, wie kann Nacht keine 10/10 sein.
Unfassbar gutes Lied besonders der Schluss, wenn es so langsam ansteigt.

Hoschi

2023-10-17 13:07:07

Erst vor kurzem wieder die komplette Disko angehört:

Du und wie viel von deinen Freunden 9/10
Nachwievor klasse, wenn man Bock auf so eine Art Musik hat. Hat einfach auch die meisten Hits.

Von Spatzen, Tauben, Dächern und Häusern 6/10
Hat einige Klassiker (Deiche, 48 Stunden)aber auch sehr viel filler.

Sylt 7/10
Tolles Album mir persönlich aber zu düster. Höre es sehr selten.

Zwischen den Runden 6/10
Toller Einstieg und Ende aber dazwischen ordentlich Langeweile.

Ich VS wir 9,5/10
Auch wenn es viele bestimmt anders sehen, für mich mittlerweile ihre bestes. Schwingt aber viel Nostalgie mit, da ich damals zum Erscheinen privat eine super Zeit hatte und sich sehr viel bei mir verändert habe.
Das Album diente quasi als Soundtrack of my life:)

MartinS

2023-10-17 11:28:59

Gerade nochmal "Zwischen den Runden" gehört und ja, mein Kommentar oben ist quatsch, das ist schon wesentlich besser als ich in Erinnerung hatte.

Enrico Palazzo

2023-10-17 11:26:44

Sehe ich wie All Crips - vor allem "Sylt" hat sich sehr super gehalten, finde ich. Ich fand die schon immer super und finde sie bis heute super.

All Crips are Bloods

2023-10-17 11:12:39

Als die damals rauskam fand ich die super, heute finde ich aber auch, dass es ihre schwächste ist.
"Zwischen den Runden" finde ich da klar die interessantere Platte. Besonders wenn man die Bonustracks dazu nimmt.

Ihre besten Alben sind aber natürlich "Sylt" und das Debüt.

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