Alfa Mist - Roulette

Sekito / Rough Trade
VÖ: 03.10.2025
Unsere Bewertung: 9/10
9/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Arthouse für die Ohren

Die Streicher verklingen, weichen den smoothen Klängen eines Klaviers, einer Trompete und eines Saxophons. Doch der idyllische Schein trügt, die vermeintliche Utopie einer Welt, in der die Möglichkeit, wiedergeboren zu werden, wissenschaftlich bewiesen wurde, entpuppt sich als Dystopie. Zumindest für Homeboy Sandman. Der Rapper erzählt über den Alltag in jener gar nicht so schönen neuen Welt: Nachdenklich lebt man in den Tag hinein und bestellt bei Amazon. Wie die meisten guten Science-Fiction-Erzählungen berichtet auch "Roulette", die sechste LP des Londoner Musikers und Produzenten Alfa Mist, mehr über die Gegenwart als über eine potenzielle Zukunft. Der hervorragende Opener wirft einen unvermittelt in einen Kosmos der wohlig-kühlen Psychedelik, ehe der Titeltrack, ein siebeneinhalbminütiges, munter die Taktarten wechselndes Jazz-Meisterstück, ein Klavier-, ein Gitarren- und ein Saxophonsolo auffährt, die sich in ihrer Schönheit gegenseitig überbieten.

Alfa Sekitoleko wächst im Londoner East End auf. Die Gesellschaft, berichtet Sekitoleko, habe ihm vermittelt, es gebe für schwarze Kinder aus ärmlichen Familienverhältnissen nur drei Optionen: Entweder werde man Sportler, Musiker oder Krimineller. Glücklicherweise versucht er es mit der Musik, wird Teil der boomenden Grime-Szene. Zum Jazz kommt er, als er Samples dieses damals im Osten Londons für viele allzu elitär wirkenden Genres in seiner Musik unterbringt. Und beschließt, dass es nicht beim Sampling bleiben soll. Sekitoleko bringt sich das Klavierspiel selbst bei, nimmt den Künstlernamen Alfa Mist an, kreuzt auf einzigartige Weise R'n'B, Rap und Jazz, gründet das Label "Sekito". Dominieren auf den ersten Veröffentlichungen des Multitalents noch R'n'B und Sprechgesang, gelegentlich begleitet von Saxophon und Klavier, gewinnt mehr und mehr der Jazz die Oberhand. "Roulette" bestätigt diese Umkehrung der musikalischen Anteile. So bleiben die letzten drei Tracks des Konzeptalbums gesangsfrei, erzählen rein akustisch von Sehnsucht in einer Welt, die doch eigentlich keine Sehnsucht mehr kennen sollte. Die abschließenden dreizehneinhalb Minuten überzeugen auch ohne den Albumkontext. Doch erst die Tatsache, dass zuvor in Worten eine Geschichte etabliert wurde, die sie wortlos zu Ende führen, lässt die finalen Stücke so glänzen.

In "9 months" schlüpft Alfa Mist in die Rolle seiner Protagonistin Yara, rappt über Korruption und Reinkarnation, ehe nach etwas mehr als eineinhalb Minuten ein Keyboard-Arpeggio elegant in den zweiten Teil des Tracks überleitet. Die hypnotischen Autotune-Backing-Vocals sind die Kirsche auf der Cupcake-Torte. So außergewöhnlich geschmackvoll wie das Cover des Albums gerät auch dessen Musik. "What year is it?", lässt Alfa Mist Yara fragen. Angesichts des Sounddesigns mutmaßt man, die Seelenreise habe in die Neunzigerjahre geführt, eine Zeit also, in der der Begriff "Conscious Rap" eher Pleonasmus als Paradoxon war. Und somit auch in ein Jahrzehnt, in dem ein gewisser DJ Shadow die Musiklandschaft mit der ersten nur aus Samples bestehenden LP aufmischte. Mitunter erinnert der gegen alle Wahrscheinlichkeit perfekt funktionierende Genre-Mix an "Endtroducing" – mit dem immensen Unterschied, dass "Roulette" im Studio eingespielt wurde. Nicht erst anhand des Streicher-Outros von "9 months" lässt sich erkennen, dass es erklärter Wunsch des Londoner Musikers ist, einen Soundtrack zu schreiben. Während Acts anderer Genres – besonders der Progressive Rock tut sich hierbei bekanntlich des Öfteren fraglich hervor – mit großem Aufwand Filme drehen lassen, um musikalisch dann doch nur den kleinsten gemeinsamen (Genre-)Nenner bedienende, laute und pathetische Hausmannskost zu liefern, zielt "Roulette" nicht auf die Masse.

Alfa Mists kopfkinoförderndes Opus Magnum benötigt keinen sich an modernen Sehgewohnheiten orientierenden "Film zum Album". "Roulette" ist eine bedächtige, leise, angenehm nischige LP, die musikalische Antithese zu Blockbusteralben. Das gilt auch für die Lyrics, die immer vage genug sind, um metaphorisch gedeutet zu werden – etwa jene zum Thema Wiedergeburt, die Kaya Thomas Dyke, jeden Ton treffend, im erstklassigen R'n'B-Song "Always be" zu filigran-dezenter Percussion singt. Im nicht minder erhabenen Soul-Track "All time" berichtet Gastsängerin Tawiah über das Leben überdauernde Liebe. Unserer Liebe in diesem Leben kann sich "Roulette" indes bereits gewiss sein. Eine dystopische Zukunft klang selten so brillant.

(Dennis Rieger)

Bei Amazon bestellen / Preis prüfen für CD, Vinyl und Download
Bei JPC bestellen / Preis prüfen für CD und Vinyl

Highlights & Tracklist

Highlights

  • Roulette
  • 9 months
  • Always be (feat. Kaya Thomas-Dyke)

Tracklist

  1. Reincarnation (feat. Homeboy Sandman)
  2. Roulette
  3. You're not blind
  4. All time (feat. Tawiah)
  5. Between lives
  6. 9 months
  7. Found you
  8. Dersen Cafe
  9. Always be (feat. Kaya Thomas-Dyke)
  10. Avoid the drones
  11. Who were you?
  12. Give nothing
  13. Give anything
  14. From East
  15. Black snow
Gesamtspielzeit: 53:07 min

Im Forum kommentieren

Watchful_Eye

2025-10-04 19:31:13

Läuft gut durch, schöne Sounds, aber ist mir nicht zupackend genug.

MickHead

2025-10-03 11:18:35

Musikexpress 5.5/6

https://www.musikexpress.de/reviews/alfa-mist-roulette/

Rolling Stone 3.5/5

https://www.rollingstone.de/reviews/alfa-mist-roulette/

Deaf

2025-10-02 16:20:32

Oh, unerwartete 9/10. Und wenn der live so gut war, werde ich mir das nächsten März wohl auch geben.

Ich finde, dass es für keine Musikrichtig jemals "zu spät" ist und man muss ja nicht ständig alles neu erfinden.

KingOfCarrotFlowers

2025-10-02 15:45:06

Immer wenn er in 9 months singt:
I am back, what year is it?
Möchte ich ihm zurufen:...Wir haben das Jahr 2025. Für jazzigen TripHop ist es leider 20 Jahre zu spät

embele09

2025-10-02 14:59:57

Ich hatte sie mir direkt bei der Vorankündigung vorbestellt. Die letzten beiden Alben sind schon absolut großartig und das Konzert zur letzten Tour eines der Highlightkonzerte im vorletzten Jahr. Review liest sich toll und meine Vorfreude steigt ungemein. Die Vinyl kommt wegen des Feiertage s aber eher erst Montag.

Hinterlasse uns eine Nachricht, warum Du diesen Post melden möchtest.

Spotify

Threads im Forum