Das Paradies - Überall, wo Menschen sind

Krokant / Indigo
VÖ: 26.09.2025
Unsere Bewertung: 6/10
6/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Ein Polaroid des Garten Eden

Weißweinschorle, laues Lüftchen, Lichterkette – genau dafür scheint der Klang von "Überall, wo Menschen sind" gemacht worden zu sein. Und doch zeichnet sich auf der dritten Langspielplatte von Das Paradies inhaltlich eine sanfte Revolte gegen den aktuellen Zeitgeist ab, die sich dem Konkreten allerdings mit milder Beharrlichkeit entzieht.

Florian Sievers, 1983 in Halle/Saale geboren und parallel weiterhin Teil der Folkpop-Band Talking To Turtles, bleibt auch hier der alleinige Architekt dieses seit 2017 bestehenden Soloprojekts. Statt großem Pathos bezaubert Das Paradies mit warmer Cozyness, musikalisch irgendwo zwischen Indiepop, Folk und verwaschener Analog-Romantik. Im Vergleich zu den Vorgängern "Goldene Zukunft" und "Transit" wirkt die neue Platte nicht nur entschleunigter, sondern bewusst entrückt. Es ist Musik für den späten Nachmittag am See, an dem die Sonne schon tief steht, kurz bevor die oben erwähnten Bilder greifen und die bald aufglühenden bunten Lichterketten die verbliebenen Planscher zu Erfrischungsgetränken, Knutschen und "mellow music" verleiten werden. Songs wie "An einem Kirschbaum in einem Sommer" oder "Bei den Regendrops" suggerieren diese Szenerie nicht nur – sie scheinen sie selbst zu sein. Sievers hat sich also Zeit gelassen – und das hört man. Als ästhetischer Vorbote vor Veröffentlichung fungierten diese beiden schon im Frühjahr 2025 als Doppel-Single und ließen auch ohne innersongliche Reibung an Hamburger Schule denken. Die Songs klingen wie aus Nostalgie gebaut: warm, luftig, zart körnig. Dabei ist die Instrumentalisierung wundervoll bunt und verspielt – zu entdecken gibt es Flöten, Streicher, Akkordeons und Saxophone, die den Stücken kleine, schillernde Details verleihen.

Zwischen dem letzten Album und dem aktuellen liegen drei Jahre Veröffentlichungspause, unterbrochen nur durch die 2024 erschienene EP "Sammlung 2", die auch schon bei Krokant erschien. Krokant ist das Label, das der Musiker mit seinem Freund Albrecht Schrader, ebenfalls ein Künstler der phonetischen Freuden, gründete. Albrecht Schrader? Doesn't ring a bell? Aber sein Orchester ganz bestimmt. Das für "Neo Magazin Royale" gegründete Rundfunk-Tanzorchester Ehrenfeld wurde unter seiner Leitung 2019 für den Grimme-Preis nominiert.

"Überall, wo Menschen sind" verzichtet auf billige Effekthascherei und bietet statt klassischem Ohrwurmpotenzial durchgängig atmosphärischen Fluss. Das funktioniert erstaunlich gut – zumindest so lange, wie man bereit ist, nicht ganz konkret hinzuhören, in der Hoffnung, es gäbe da vielleicht noch mehr zu entdecken. Denn so homogen das Album erscheint, so schwer fällt es, sich nach dem Hören an einzelne Songs zu erinnern. Es fehlt an Spannungsbögen und Kontrasten. Wirklich haften bleiben vor allem "Die neue Illusion ist da" und "Der Spuk, der uns verbindet" – Erstere nicht zufällig die letzte reguläre Single-Auskopplung vor LP-Release. Diese Songs zeigen, dass Sievers sehr wohl weiß, wie man Subtilität und Pop-Gespür zusammenbringt. Umso mehr fragt man sich, warum er diesen Weg nicht öfter geht. Dass der Sänger sich nicht in den Vordergrund stellt – weder stimmlich noch kompositorisch –, ist vermutlich Programm; dass es funktioniert, durchaus eine Stärke. Es gibt eine erkennbare musikalische Kohärenz –doch diese Geschlossenheit kann mitunter den Eindruck von Gleichförmigkeit hinterlassen. Nur teilweise gelingt der Balanceakt zwischen Atmosphäre und Einprägsamkeit.

Gerade "Der Spuk, der uns verbindet" erinnert sehr an Virginia Jetzt!s "Blühende Landschaften", insbesondere an den Song "Hollywood", mit dem er sich, neben klanglicher Parallelen, auch ein Textfragment teilt ("Es ist kein Happy End"). Doch wo die genannte Indie-Pop-Band noch vom Beziehungsende poetisierte, wendet sich der Solokünstler Sievers auf einer fast metaesken Ebene der Beziehungskrise unserer Zeit zu – dem gesellschaftlichen Umgang miteinander und dem Schüren von Angst durch einige reaktionär veranlagte Anti-Selbstreflektionisten ("Es sind keine Wunder, nein, die uns passieren, auch keine Verwünschungen, die uns verwirbeln und verwirr'n"). Diese Thematisierung gilt es durchaus zu begrüßen. Doch auch dieser Moment bleibt eingebettet in ein Album, das lieber in Andeutungen verweilt, als endgültige Antworten zu liefern. Am nächsten Morgen bleibt die Platte im Kopf wie Weißwein am See: bezaubernd. Verträumt. Von Bedeutung. Doch die Details sind passé.

(Jasmin Klemm)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Die neue Illusion ist da
  • Der Spuk, der uns verbindet
  • Das Leben fühlt sich endlos an

Tracklist

  1. Florian gibt auf
  2. Alles schmeckt nach Abschied
  3. Die neue Illusion ist da
  4. An einem Kirschbaum in einem Sommer
  5. Der Spuk, der uns verbindet
  6. Brand neu second hand
  7. Wenn der Staub sich legt
  8. Das Leben fühlt sich endlos an
  9. Bei den Regendrops
Gesamtspielzeit: 30:48 min

Im Forum kommentieren

qwertz

2025-10-05 15:23:06

Schönes Album! Kannte die Gruppe bisher gar nicht. "An einem Kirschbaum in einem Sommer" ist ja mal sowas von schmissig-schön.

Armin

2025-10-01 20:40:57- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

Meinungen?

Immermusik

2025-09-26 17:36:53

Schöner VÖ Tag heute. ClickClickDecker lief bereits, jetzt Das Paradies und dann Stefanie Schrank. Die beiden sind auch zusammen auf Tour.

MickHead

2025-09-26 09:51:06

Komplette Playlist bei YouTube:

https://youtube.com/playlist?list=OLAK5uy_lBbHqicy3bDt2yzAVbIBhTn0Z30_lg08c&si=PcOUfLf6Df1LFzQm

Musikexpress 5.5/6

https://www.musikexpress.de/reviews/das-paradies-ueberall-wo-menschen-sind/

Armin

2025-08-22 18:11:46- Newsbeitrag

DAS PARADIES - DIE NEUE ILLUSION IST DA (Musikvideo)


„Die neue Illusion ist da!“ Das Paradies zieht zur rechten Zeit dieses Apokalyptik-Pop-Stück aus dem Hut. Leider – das überrascht nur die Paradies-Kenner:innen nicht – ohne Baldrian-Effekt, was die Endzeit angeht. Stattdessen katalysiert dieser Song die Ahnung, dass wir alle zusammen noch einige Rubik-Würfel zu knacken haben.

Und hören wir das wirklich? Singen Stefanie Schrank und Björn Sonnenberg von Locas in Love zusammen mit Florian Sievers den Chorus „Was gestern traurig war, ist, was ich heute mag“? Die „letzte Liebe“ ist vielleicht doch noch nicht gefühlt.

Drei Jahre nach dem zweiten Album „TRANSIT“, erschienen bei Grönland Records, und der elektronischen EP „SAMMLUNG 2“ im letzten Jahr, ist dieser Song die letzte Single, bevor das gesamte dritte Album „ÜBERALL, WO MENSCHEN SIND“ am 26. September auf dem von Sievers mitgegründeten Label Krokant erscheint.

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