
Front - Album
Staatsakt / BertusVÖ: 30.05.2025
Vorwärts zum Beton
Es muss ein herzzerreißender Anblick gewesen sein: Ralf Hertwig und Joern Schumacher hocken Anfang der Achtziger auf dem Hamburger Polizeirevier – wild entschlossen, ihr frisch verhaftetes Idol Joe Strummer rauszuboxen, der kurz zuvor beim The-Clash-Konzert einen Fan mit seiner Gitarre vermöbelt hat. Natürlich interessiert sich niemand für den Sänger und den Schlagzeuger der aufstrebenden Post-Punks Front, sodass sich beide nach ein paar Stunden unverrichteter Dinge und vermutlich auch ohne Abendessen wieder trollen. Rund 45 Jahre später sitzen die verbliebenen drei Mitglieder – Gitarrist Godehard Buschkühl verstarb unlängst – mit Andreas Dorau zusammen und erörtern den über-über-überfälligen Release des Front-Debütalbums. Dazu ist Dorau, Dada-Pop-Veteran und Front-Fan der ersten Stunde, ebenfalls wild entschlossen.
Liest sich fast nach einem Mockumentary-Ding Marke Fraktus, ist aber keins. Front brachten es bis 1981 nämlich immerhin auf zwei Singles und einen Samplerbeitrag, ehe sich Hertwig den Nachbarn Palais Schaumburg anschloss und Bassist Jürgen Keller bei Dorau oder Holger Hiller musizierte, ohne dass die Band je offiziell für beendet erklärt worden wäre. Auflösung aus Zufall. Was man nun auf "Album" hört, ist mühevoll aus lange verschollenen Tonbändern digital rekonstruiert und KI-optimiert – der späteste Erstling aller Zeiten, ergänzt durch die Compilation "Singles", wahlweise auf handlichem 10"-Vinyl oder putziger 2"-CD. Ob jemand Letztere überhaupt noch abspielen kann, tut dabei wenig zur Sache, denn mit hektischen Zisch-Drums, verbogenen Riffs und vorwitzig fiepender Gründerzeit-Elektronik bettelt diese Musik geradezu nach einem analogen Medium.
Doch auch digital knacksen und rauschen die 17 Tracks zur Genüge, wenn Front ausgesucht spröde die Dinge verhandeln, die orientierungslose Jungmenschen zu Beginn der 1980er-Jahre beschäftigten: atomare Bedrohung, Kalter Krieg, zubetonierte Innenstädte voller Typen in Trenchcoats, die eigentlich nur sowjetische Spione sein konnten. Klingt aktueller, als diese Kompositionen sind – zumal sich bis heute nichts Wesentliches an diesen Dingen geändert hat. "Alles kommt wieder", wussten schon Front und entwerfen im gleichnamigen Stück eine Art Proto-Body-Music: rigoros, unversöhnlich, desillusioniert. Und skandiert Schumacher "Journalisten kommen ins Schwitzen / Direktoren sind verloren / Vorwärts sehen, rückwärts gehen", toppt das leicht die schönsten Katastrophen jener Neuen Deutschen Welle, an der das Quartett denkbar knapp vorbeischrammte.
Im gleichen Sinne wandert "Hey Mutant" barfuß durch die Scherben von Gang Of Four, während das rasante "Gleiche Frage" mit dem punkigen DAF-Zweitling "Die Kleinen und die Bösen" um die Wette scheppert – so ziemlich die einzige Referenz an eine deutsche Band, da es in diesem Bereich hierzulande schlicht kaum etwas zu referenzieren gab. Umso präsenter stattdessen: kantiger New und No Wave britischer und amerikanischer Prägung im Gefrier-Funk von "Polaroid" oder dubbige The-Specials-Implantate beim düsteren Reggae "Blech und Liebe", zu dem es im entwurzelten Deadpan-Stil heißt: "Kleine Mädchen wundern sich / An jeder Straßenkreuzung ist ein Strich." Und streng genommen sollte dieses so rohe wie tolle Dokument frühen Post-Punks nicht etwa online, sondern nur unterm Ladentisch verkauft werden. Wegen der guten, schlechten alten Zeit.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Alles kommt wieder
- Hey Mutant
- Gleiche Frage
- Polaroid
- Blech und Liebe
Tracklist
- CD 1
- F.R.O.N.T.
- Emotionslos
- Alles kommt wieder
- Hey Mutant
- Vormacht
- Gleiche Frage
- Zeit
- Aufgang 3
- Hoch tief hoch
- Wasser (Dub)
- CD 2
- Polaroid
- Chicorée
- Manntage
- Wahn
- Blech und Liebe
- Alternativ
- City West
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Armin
2025-06-19 09:33:12- Newsbeitrag
Frisch rezensiert.
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