Melvins - Thunderball

Ipecac / PIAS / Rough Trade
VÖ: 18.04.2025
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Übel & gefährlich

Der, welcher diese Zeilen schrieb, brach sich vor etwa drei Jahren durch einen saublöden Sturz gleichzeitig das Schienbein, das Wadenbein und das zugehörige Sprunggelenk. Das war nicht schön. Trotzdem gehören die acht Stunden zwischen dem Eintreffen des Krankenwagens und dem Aufwachen nach der Erstoperation zu den bemerkenswertesten Erfahrungen im Leben des Protagonisten, denn: Er bekam zunächst vor der Krankenwagenfahrt ein geziemendes Quantum Ketamin in den Kreislauf georgelt, in der Notaufnahme vorm Zurechtrücken (für Mediziner: Reponieren) des abnorm schiefstehenden Fußes nochmal ordentlich Dormicum obendrauf – und dann ging's auch gleich nahtlos über in eine zünftige Propofol-Narkoseeinleitung, um für die erste Operation startklar zu sein. Ein nicht nur schmerzhaftes, sondern auch in höchstem Maße psychedelisches Erlebnis, das eigentlich schon längst wieder vergessen war, aber durch die Inaugenscheinnahme des neuen Melvins-Albums erstaunlich farbenfroh reaktiviert wurde. Ob's daran liegt, dass die Band dieses Album mehr oder weniger in der Originalbesetzung von 1983 einspielte oder ob Buzz Osborne und die Seinen einfach einen Lauf hatten: Nach einigen eher mediokren Platten ist "Thunderball" jedenfalls ein echtes, ein geiles Brett, ja eine richtige Abrissbirne.

Fünf Stücke, eine gute halbe Stunde Gesamtspielzeit – das sind zunächst keine olympischen Leistungswerte. Aber auf "Thunderball" sitzt tatsächlich alles am richtigen Fleck. Der Opener "King of Rome" ist das optimale Äquivalent, der perfekte Soundtrack zu einer reichlich rumpeligen Fahrt im Krankenwagen. Es jaulen die Gitarren, es stolpern die Drums, der RTW fährt über Kopfsteinpflaster und der verzerrte Gesang erinnert an den Funkverkehr zwischen Fahrer und Leitstelle, auch die eine oder andere Sirene ist zu erahnen. Es folgt mit "Vomit of clarity" unheilvolle Ruhe nach dem Magenauspumpen (sic!): Sequenzer-Gepucker, merkwürdige Synthesizer-Sounds, weite Klangflächen, entfernte Geräuscheffekte, die durchs Stereopanorama brettern, zur Linken sitzt ein lächelnder Anästhesist, der eine milchige Flüssigkeit in die Vene jagt. Man zählt lallend ein wenig rückwärts – dann ist das zentrale Nervensystem erst mal auf Standby und die richtig üblen Träume können beginnen, während der Chirurg die Bohrmaschine scharfschaltet und sich anschickt, einen Fixateur externe (bitte nur mit stabilem Magen googeln) anzulegen.

Es folgen nun drei Stücke, die sinister, psychedelisch, lysergsauer, gefährlich und funkelnd zugleich sind. Das liegt vor allem erst mal an diesem perversen Bass-Sound, der die Musik abgrundtief und bitterböse grundiert. Aber auch an dem stetigen Wechsel der Arrangements, der kompletten Unvorhersehbarkeit aller Tracks. "Short hair with a wig" zum Beispiel baut auf einem extrem wackeligen 6/8-Takt auf, dem aber permanent irgendwo ein Achtel geklaut wird, was ein ZDF-Fernsehgarten-artiges Mitklatschen unmöglich macht. Hat man sich gerade an den langsam stolpernden Rhythmus gewöhnt, beschließen die Melvins, einfach mal den Takt zu wechseln und zu improvisieren. Wir reden hier natürlich nicht von vergniedelten Jazz-Improvisationen, sondern schildkröten- beziehungsweise zeitlupenartigen Versuchsaufbauten, die eher tektonische Verschiebungen als virtuose Fingerübungen darstellen.

"Victory of the pyramids" hingegen erinnert zumindest anfänglich an das Frühwerk der Smashing Pumpkins: treibend, nach vorne preschend, manisch. Doch auch dieses Vernügen hält nur kurz, denn die Melvins schlagen Haken um Haken. Mal klingt's, als hätten ZZ Top ein uneheliches Kind mit Guana Batz gezeugt, mal fliegen Stoner-Riffs um die Ecke, und dann immer wieder dieser irre Bass. "Venus blood" schraubt sich wie ein Mahlstrom empor, erinnert in seiner Stumpfheit und Repetitivität an The Fall oder Swans, wenn da nicht dieser käsig-bedröhnte Gesang wäre. Ziemlich genau bei Minute 06'00" gibt's ein herrlich stumpfes Gitarrenriff, das man am liebsten noch stundenlang hören würde. Leider werden aber nur 90 Sekunden gewährt. Dann endet das Stück, ganz artig und manierlich, mit einem abgestoppten Schlag aufs Crashbecken. Man erwacht brüsk aus der Narkose, zieht ängstlich die Bettdecke weg – und blickt auf ein monströses Stück Metall am Fuß. Tja.

(Jochen Reinecke)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Short hair with a wig
  • Venus blood

Tracklist

  1. King of Rome
  2. Vomit of clarity
  3. Short hair with a wig
  4. Victory of the pyramids
  5. Venus blood
Gesamtspielzeit: 34:03 min

Im Forum kommentieren

fuzzmyass

2025-05-04 00:10:09

Hat mich auch beim Erstdurchlauf nicht ganz so gepackt wie Tarantula Heart, aber gut ist es schon... mal sehen was die nächsten Durchgänge liefern

noise

2025-05-03 23:28:26

So, jetzt auch mal gehört. So richtig überzeugt hat mich die Scheibe bislang nicht. Gerade wenn ich sie mit den ganz alten Sachen vergleiche. Habe aber das dumme Gefühl, dass es eher an mir liegt da ich zurzeit anderes höre. Werde ihr auf jeden Fall noch eine zweite Runde geben. Sind immerhin die Melvins.

fuzzmyass

2025-04-27 17:48:34

Rarantula Heart find ich klasse - die hier höre ich erst in der kommenden Woche

Telecaster

2025-04-27 17:14:41

Wieder mal sehr gut geworden, dass die letzten Alben nur mittelmäßig gewesen seien, kann ich jedoch keinesfalls unterschreiben. Bad Mood Rising und Tarantula Heart waren beide schon ziemliche Bretter, Working With God fand ich tatsächlich auch eher unausgegoren.

Donny-

2025-04-23 21:06:11

Absolutes Brett, grandios unterhaltsame Rezi!

Die Melvins können tatsächlich noch mit Kompromisslosigkeit und Finesse irgendwie überraschen. Das überrascht mich.

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