Steven Wilson - The overview

Fiction / Virgin / Universal
VÖ: 14.03.2025
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Die Welt ist nicht genug

Wer irgendwann einmal viel Zeit hat, ein oder zwei Tage vielleicht, sollte den zugegebenermaßen etwas nerdigen Versuch unternehmen, die Diskografie von Steven Wilson – egal, ob solo oder mit Porcupine Tree – in chronologischer Reihenfolge durchzuhören. Das Resultat dürfte so manchen überraschen. Denn Wilsons Alben entstehen selten aus einer Laune, aus einem Moment heraus, sie haben ihre Daseinsberechtigung vor allem in der künstlerischen Phase, in der sich der Brite, der bekanntermaßen nichts mehr hasst als kreativen Stillstand, gerade befindet. Und genau deshalb war es ihm komplett egal, als so manch verbohrter Fan 2021 angesichts der Pop-Sounds von "The future bites" in Schnappatmung verfiel, genau deshalb freute er sich geradezu diebisch, als er im Folgejahr verkündete, "Closure / Continuation", das Comeback von Porcupine Tree, sei von langer Hand geplant gewesen.

Für "The overview", das siebte Studioalbum des irgendwie immer noch wie Mitte 20 aussehenden 57-Jährigen, blieben also im Grunde nur zwei Möglichkeiten. Entweder erneuter radikaler Wandel oder zurück zu den Wurzeln. Und mit Blick auf die überschaubare Trackliste und die Spielzeit, die verrät, dass die beiden Tracks jeweils auf eine Schallplattenseite passen, ist die Antwort schnell eindeutig und die Prog-Aficionados schon vorab im siebten Himmel. Womit wir beim Stichwort wären, bezeichnet der titelgebende Overview-Effekt doch die Erfahrung von Astronauten beim Blick auf die Erde, die zumeist von großer Demut über die Nichtigkeit menschlichen Daseins geprägt ist. Ein großer Rahmen für ein Wilson-Album also, das dann auch standesgemäß mit filmischer Unterstützung in einem IMAX-Kino mit der größten Leinwand Großbritanniens uraufgeführt wurde.

Zunächst allerdings beginnt "Objects outlive us" zwar mit ebendieser Tendenz, aber umso zerbrechlicher. Schickt dabei zunächst diejenigen vor die Tür, für die Wilsons Falsettgesang etwa so melodisch klingt wie das Kratzen von Kreide auf einer Schiefertafel. Und beamt dann alle anderen weit zurück in die eigene Diskografie. Was darf's denn als Referenz sein? "The sky moves sideways"? Oder doch lieber "Last chance to evacuate planet Earth before it is recycled"? Allemal wunderschön, wohlige Nostalgie macht sich breit. Plötzlich ein ruppiger Bass, ein krachendes Riff zerreißt jene Wohligkeit. Nur um wieder eingefangen zu werden und irgendwann in genau dieser Stimmung zu landen, die Wilson so einzigartig macht. In der jedes Wort zu viel ist und man sich wünscht, das gewohnt brillant produzierte Hörerlebnis möge bitte nie enden.

Der zweite Teil "The overview" ist da schon deutlich sperriger. Beginnt mit elektronischen Soundscapes und der Stimme von Wilsons Ehefrau Rotem, die die Entfernung der Erde zu diversen Galaxien und Sternen rezitiert. Keyboards, die sicher nicht völlig zufällig nach einem gewissen Richard Wright klingen. Und immer wieder dieser betörende Harmoniegesang wie aus der Zeit rund um die Jahrtausendwende, als Wilson seine Vorliebe für Pink Floyd in vollen Zügen auslebte. Alles mündend in ein großes Finale, das urplötzlich kurz Kraftwerk zitiert, um dann in Stille auszutrudeln. Diejenigen, die es schon immer besser wussten, werden jetzt möglicherweise den berühmten Schuster erwähnen, der bei seinem Leisten bleiben sollte – will heißen, dass Steven Wilson sich wieder in seinem gewohnten Habitat befindet. Doch trifft das wirklich zu? Die Sounds klingen bekannt, auf beste Weise nostalgisch, rütteln gerade nicht auf, sondern öffnen die Tür zu einem besonderen Erlebnis. Die Komfortzone verlässt der Brite trotzdem, waren Longtracks doch bislang die einzige Schwäche in seiner Diskografie. Mit "The overview" wetzt er diese Scharte aus. Und unterstreicht mit der filmischen Untermalung direkt das Potenzial zum Gesamtkunstwerk.

(Markus Bellmann)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Objects outlive us

Tracklist

  1. Objects outlive us
  2. The overview
Gesamtspielzeit: 41:40 min

Im Forum kommentieren

JohnWesley

2025-04-19 21:58:34

Um Kraftwerk zu gedenken gestehe ich: hier spricht die Stimme eines Konsumenten. Eines wohlgesonnenen Konsumenten, der seit 1993 erst Porcupine Tree und dann auch Steven Wilson solo etliche Stunden Hörvergnügen verdankt.
Musiktheoretisch bin ich nicht herausragend orientiert oder interessiert. Dies nur zur Einordnung.
Mit diesem aktuellen Album habe ich mich mittlerweile angefreundet. Hatte ich anfangs Album Seite eins "Objects Outlive Us" favourisiert, widerrufe ich jetzt. In sich stimmiger tönt Seite zwei "The Overview".
Es beginnt mit "Perspective", einer Melanche aus Pink Floyd, Autechre und Laurie Anderson. Sehr schön. Wie auch bei den folgenden Versatzstücken schafft es Steven Wilson musikalischen Referenzen in sein eigenes Universum zu verschmelzen. Selbst das anfänglich von mir geschmähte "Permanence" gewann nach jedem Hörerlebnis. Dieser traumhaft schöne Ausklang erinnert mich an Vangelis, hier gefühlvoll von Saxophonist Theo Travis ins Weltall geblasen.
"Objects Outlive Us" hat dagegen mein Interesse leicht verloren. "Objects: Meanwhile" und "No Ghost On The Moor / Heat Death Of The Universe" sind mit Abstand meine Favoriten. Die sonstigen vier Titel sind leider nur mittelprächtiges Beiwerk. Und die Abmischung von "The Cicerones / Ark" empfinde ich als Zumutung. Den Pegel unvermittelt in die Höhe zu ziehen beweist eben keineswegs eine besondere progressive Kreativität, sondern es nervt maßgeblich. (Das erlebe ich allerdings auch bei besonders ausgetüfftelten Blu-Ray Filmabmischungen. Das liegt sicherlich an mir, ich besitze keine 185 fein abgestimmten Boxen einer Lautsprecherkombination, und ich will auch nicht das Gefühl eines einstürzenden Weltalls akustisch in den Magen gerammt bekommen).
Ich hatte auf ein Meisterwerk gehofft, so sind es für mich nur 7/10 geworden. Meine Hoffnung allerdings bleibt, Steven Wilson bleibt einer meiner Favoriten der letzten Jahrzehnte.

Marküs

2025-04-02 07:49:26

Ich finde es sehr geil vielleicht etwas schwächer als Harmony Kodex, meine Frau findet es gar besser. Bin sehr zufrieden mit der Ausrichtung. Finde es auch nicht besonders proggy. Für mich gab es ein halb schwaches Album To the bone und ein schwaches Future bites. Seit den folgenden Releases bin ich mit Stevie wieder versöhnt.

ijb

2025-04-02 00:11:51

Ich bin kein besonderer Wilson-Fan, finde das Album aber echt gut. Vor allem freut es mich, dass es überhaupt nicht so proggig ist wie seine früheren Prog-Sachen (die sprechen mich nämlich wenig bis eher gar nicht an). Es ist doch jetzt nicht wahnsinnig weit weg von den letzten Sachen, die er gemacht hat. Es sind ja auch nicht direkt proggige "longtracks", sondern eher zwei Suiten aus mehreren einzelnen Stücken, die ineinander übergehen.

Mr Oh so

2025-04-01 21:27:55

Die Kritik kommt ja immer wieder. Für mich fließt das alles ganz gut. Tolles "Spät-nachts-Album".

nörtz

2025-04-01 12:02:04

Ich habe es nun nicht mehr so oft gehört. Es ist okay, aber mehr für mich auch nicht. Teils zu viel Leerlauf, in dem nicht viel passiert und ein kohärenter Longtrack sind beide Stücke auch nicht, zu viel Stückwerk.

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