
Everon - Shells
Music TheoriesVÖ: 28.02.2025
Die Rückkehr der Referenz
Das kann sich sehen lassen. Mit immerhin 106 Treffern im Bereich Referenzen, darunter zu Genregrößen wie Dream Theater oder Riverside, sind Everon unter Plattentestern offenbar keine Unbekannten. Wahrscheinlich wird der Name den meisten Heavy-Prog-Hörern trotzdem nicht viel sagen, denn ihr letztes Werk veröffentlichten die Deutschen 2008, also vor geschlagenen 17 Jahren. Außerdem hat sich die bereits 1989 in Krefeld gegründete Band mit einer Reihe beachtlicher Veröffentlichungen eine zwar treue, aber relativ kleine Fangemeinde aufgebaut. Der Kreis derer, die diesem Comeback entgegenfiebern, dürfte also überschaubar sein. Ganz im Gegensatz zum Kreis derer, die diese Platte hören sollten.
Denn welcher Progressive-Rock-Hörer würde sich bei der Aussicht auf ein so ereignis- wie abwechslungsreiches Erlebnis voll mit bildschönen Melodien und Harmonien abwenden? Wer seinen Prog vor allem hart, technisch und verkopft will, mag zunächst vielleicht der neuen Dream-Theater-Platte "Parasomnia" den Vorzug geben, mit der die Amerikaner ja wieder eine Schippe drauflegen. Wem aber der Sinn nach mehr als audiophilem Nervenkitzel steht, wem es nach Musik verlangt, die die Seele berührt, die gespickt ist mit prächtigen Einfällen und von melodischer Meisterklasse geprägt ist, der wäre denkbar schlecht beraten, dieses Album links liegen zu lassen. Denn Everon zelebrieren mit "Shells" nicht weniger als die ganz große Prog-Rock-Kunst, bedienen dabei höchste Ansprüche mit Bravour und bieten genau jenes oft gesuchte, zu selten gefundene Blockbuster-Kopfkino, das die Daseinsberechtigung dieses Genres definiert.
Zwar ist nicht bekannt, ob Bandleader und Kreativkopf Oliver Philipps tatsächlich in der ganzen langen Schaffenspause daran gefeilt hat, doch "Shells" klingt wie ein Werk, an dem 17 harte Jahre gearbeitet wurde. Nach Songs, deren vielschichtige Strukturen selbstverständlich wirken, und das nicht trotz, sondern gerade weil jede einzelne Note dem eigenen Geist in einem zähen Ringen abgetrotzt werden musste. Keine künstliche Komplexität, um vorherrschende Ideenlosigkeit zu kaschieren, kein übertriebener Bombast, um Banalitäten auszugleichen. "Shells" durchzieht bei aller kompositorischen Raffinesse eine im Genre nur selten vorzufindende Klarheit, die mit "No embrace" und "Broken angels" bereits einen packenden, formvollendeten Anfang findet und spätestens ab "Travels" im Grunde ausnahmslos beeindruckt – besonders durch elegante Gesangslinien und eine spannungsgeladene Dynamik, die dem aufgewühlten Innenleben der besungenen Figuren entspricht.
Wie etwa beim Titeltrack versteht es die Band dabei auch immer wieder, Akzente in puncto Härte zu setzen, die die mal poppigen, mal bittersüßen Melodien gekonnt kontrastieren. Zugleich scheuen Philipps und Co. auch nicht davor zurück, die Rhythmusfraktion in den Hintergrund treten und den geschlechterübergreifenden Stimmen den erhaben wirkenden Raum zu überlassen, wie das vor allem bei "Children of the Earth" der Fall ist. Ein leider etwas kurz geratenes Prunkstück, das charakteristischerweise von dem ebenfalls knapp bemessenen, aber in seinen drei Minuten aufregenden Prog-Metal bietenden Instrumental "OCD" abgelöst wird, auf das wiederum mit "Until we meet again" der wohl schönste und eingängigste Song des Albums folgt, welcher textlich durch den plötzlichen Tod von Drummer Christian Moos eine besonders tragische Note bekommt.
Der einzige nennenswerte Kritikpunkt an dieser herausragenden Platte ist, dass es der vermeintlich krönende Abschluss haarbreit verpasst, ein eben solcher zu sein. Bei "Flesh" handelt es sich um eine formidable Komposition, die bei anderen Bands hervorgehoben werden würde, ohne Abstriche der bisherigen Qualität entspricht und sie angemessen abrundet, der es aber nicht hunderprozentig gelingt, die ganze Grandezza über die gesamte rund viertelstündige Wegstrecke hinweg in ein alles überragendes Finale zu führen. Das verhindert letztlich den Vorstoß in noch höhere Wertungsregionen, ändert aber nichts daran, dass "Shells" lange nachhallt und ein Werk ist, das sich vor den besten seiner Art nicht verstecken braucht und in diesem noch jungen Prog-Rock-Jahr erst einmal übertroffen werden muss.
Highlights & Tracklist
Highlights
- No embrace
- Travels
- Pinocchio's nose
- Monster
- Until we meet again
Tracklist
- No embrace
- Broken angels
- Travels
- Pinocchio's nose
- Monster
- Shells
- Grace
- Guilty as charged
- Children of the Earth
- OCD
- Until we meet again
- Flesh
Im Forum kommentieren
Neytiri
2025-03-14 08:52:52
Überraschend starkes Album mit richtig guten Songs, wunderbaren Gesangslinien und durchgehend hohem Niveau, wenn auch mehr Rock als Prog. Für mich sogar der bisherige Jahreshöhepunkt.
Timy_T
2025-02-28 14:58:58
Der im letzten Absatz "kritisierte" Longtrack Flash ist eher sowas wie ein Bonustrack. Es handelt sich hier um eine Neueinspielung (?) eines älteren Stückes (vom gleichnamigen Album von 2002). Da empfand ich ihn immer schon als Highlight, und hier auf dem neuen Album hält er das Niveau meiner Meinung nach locker.
Armin
2025-02-24 19:51:43- Newsbeitrag
Frisch rezensiert.
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- Everon - Shells (3 Beiträge / Letzter am 14.03.2025 - 08:52 Uhr)