Richard Dawson - End of the middle

Domino / Weird World
VÖ: 14.02.2025
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Spülbecken-Realismus

"Good morning Britain, a soft-boiled egg" – eine Szene erwächst unmittelbar aus der ersten Zeile der Single "Gondola". Richard Dawson reiht darin Alltagsbeobachtungen einer älteren Frau aneinander, in die das stumpfe Fernsehprogramm als Kommentar hineinflackert. Der Song besingt zärtlich und nackt die Monotonie eines schnell vorbeigezogenen Lebens und steuert nach und nach auf seine Pointe zu: die Phantasmagorie einer Venedig-Reise, die passiert sein kann oder auch nicht. Die Schauspielerin Jenny Coverack verleiht im bewegenden Musikvideo der Protagonistin ein Antlitz, wenn sich Dawsons Reflexionen in die Furchen ihres Gesichts einzuschreiben scheinen. Als im England der Nachkriegszeit der sogenannte "kitchen sink realism" zur prägenden Strömung auf den Theaterbühnen wurde, ging es darum, der sozialen Wirklichkeit der Arbeiterklasse einen Raum zu geben, sich gegen Eskapismus und Verklärung zu wenden. "End of the middle", der Titel von Dawsons erstem Album seit den Prog-Folk-Extravaganzen von "The ruby cord", liest sich einerseits als Zuspitzung von ökonomischer Abstiegsangst und hört sich andererseits an wie eine musikalische Entsprechung jener dramatischen Direktive. Ein knochentrockenes, karges Klangbild, das nur punktuell über das Trio aus (Akustik-)Gitarre, Bass und Schlagzeug hinausreicht, grundiert darauf Dawsons komplexe Erzählungen über das einfache Leben im England der Gegenwart.

Wirkte Dawson zuletzt häufig eher wie ein experimenteller Schamane aus einem verqueren Auenland, der mittelalterlichen Folk postmodern dekonstruiert, so bricht der mutige Minimalismus von "End of the middle" mit vielen Erwartungen. "Bolt" berichtet nach schwermütigem Slowcore-Intro von einem plötzlichen Blitzeinschlag ins Haus und einem ebenso plötzlichen Telefonanruf – leider verwählt –, die beide den Wunsch verbildlichen, Routine aufzubrechen. Das anschließende "Bullies" besprenkelt seine unruhige Geschichte über gewaltsame Schulerfahrungen mit den gequält überblasenen Klarinettentönen Faye MacCalmans, die im Albumkontext eine ähnliche Funktion einnehmen: Die Credits listen sie treffend als "clarinet bolts of lightning". Nach sanftem Zwischenspiel versetzt sich Dawson in die Rolle des Vaters, dessen eigener Sohn zum Störenfried wird: "What am I going to do with this kid?"

Die allgegenwärtige Kargheit des Sounds gibt der emotiven Kraft seiner Stimme Verantwortung: Unerwartet verästeln sich Gesangsmelodien und kippen ins Falsett, immer wieder streut die Gitarre kleine Dissonanzen ein. Thematisch behält Dawson den Alltagsfokus, singt über Uneindeutigkeiten und generationale Konflikte. In "Boxing Day sales" begleitet ihn ein scheppes Klarinettensolo dabei, wie er überdrüssig Alltagsgespräche und Konsumgüter notiert. Die sarkastische Hook gerät zum doppelbödigen Offenbarungseid: "You owe it to yourself." "Polytunnel" erfreut sich lyrisch am Gärtnern – "On my hands and knees / Ears filled with crowspeak and buzzing bumblebees" –, gewinnt daraus Einsicht um Einsicht und bekennt doch augenzwinkernd: "It's Karen who was always the green-fingered one / I don't really know what I am doing."

Immerhin vier der neun Songs überschreiten die Sechs-Minuten-Marke und verdeutlichen, dass Dawson die Lust an sich verzweigenden Kompositionen keineswegs verloren hat. Bloß stehen sie diesmal voll und ganz im Dienste seiner Figurenskizzen, seiner aufmerksamen und nicht selten grandiosen Lyrics. Wie "Knots" die profunden Banalitäten einer Hochzeitsgesellschaft seziert, sollte in der Gänze seiner zwölf Strophen zitiert werden. Am Ende brüllt der aufgerissene Verzerrer die einzige Klimax des Albums herbei – zumindest die einzige, die lärmt. Denn auch "Removals van" baut auf einen Moment der Erkenntnis, wenn der erwachsene Erzähler mit Familie ins neue Haus einzieht und sich gleichzeitig an den eigenen Vater aus der Kindheit erinnert. Der verlor die Arbeit und trank: Aufbau und Zerfall. Über den weichen Synthie-Flächen des Closers greift Dawson im Duett mit Sally Pilkington die Vater-Sohn-Dynamik wieder auf, bis sich die Vergangenheit erlösen darf: "Words are the foundations of the world / What we've made is more than real." Leicht kann sich verrennen, wer Alltagstrivialitäten zur Basis seiner Texte macht und die Mühen der Mitteilbarkeit verkennt. Dawson hingegen dringt ein ums andere Mal durch zur existentiellen Tiefe täglicher Erfahrungen – ein wenig schräg und darum umso klareren Blicks.

(Viktor Fritzenkötter)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Gondola
  • Boxing Day sales
  • Knot

Tracklist

  1. Bolt
  2. Gondola
  3. Bullie
  4. The question
  5. Boxing Day sales
  6. Knot
  7. Polytunnel
  8. Removals van
  9. More than real
Gesamtspielzeit: 49:16 min

Im Forum kommentieren

Unangemeldeter

2025-03-10 17:19:27

Das muss ich jetzt endlich mal hören, ich hab schon den Ruby Cord jahrelang auf der Reinhörliste vergessen, weiß nicht was da los ist. Die Rezension ist super und ich bin voller Hoffnung dass das genau was für mich ist.

cargo

2025-03-10 15:20:29

Ich hab das Album nach längerer Pause wieder gehört und bin immer noch ziemlich geflasht von der Platte. Die Songs haben so viele kleine wunderschöne Details zu bieten. Jedes Mal entdeckt man etwas neues. Für mich bleibt das ein heißer Anwärter auf das Album des Jahres.

Hierkannmanparken

2025-03-10 13:24:38

Danke für die Tipps! Ich nehme den "rückwärts"-Ansatz und mache mit Circle weiter ;)

Mein Hype um das aktuelle Album ist etwas abgeklungen. Geblieben ist die Begeisterung für Gondola, Boxing Day Sales und More Than Real. The Knot entwickelt aber auch sehr spannende Illinoise-Vibes in der Mitte. Andere Songs wie Bolt, Removals Van oder Polytunnel finde ich musikalisch etwas trocken, werde mich aber noch etwas intensiver mit den Lyrics beschäftigen.

Lateralis84skleinerBruder

2025-03-01 20:40:57

Falls du Lust hast, höre ruhig in seine anderen Projekte rein.
Mein Favorit ist 2020, lyrisch zeitlich ähnlich verortet wie mit dem aktuellen Album, aber mit ein wenig mehr Rock Anteil in Anführungszeichen.
Das Projekt mit Circle ist so „metal“ wie es in diesem Kosmos nur werden kann.
Mit Peasant habe ich ihn auf dem Moers Festival gesehen. Sein Kosmos im Mittelalter, toll mit vielen Mitmusikern arrangiert.

Sein Katalog ist voll von tollen weirden Ideen

Hierkannmanparken

2025-03-01 12:47:27

"It's Karen who was always the greenfingered one/I don't really know what I am doing" deutet für mich darauf hin, dass er im Song das Hobby einer verlorenen Person aufgreift und fortsetzt, um sich ihr nah zu fühlen. Finde das Musikvideo auch insofern cool, weil darin die Gemeinschaft gesucht wird, statt sich alleine in die Trauer zurückzuziehen.

Bezüglich Circle Project, keine Ahnung :D das ist das erste Mal, das ich seine Musik höre

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