Tocotronic - Golden years

Epic / Sony
VÖ: 14.02.2025
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Nur keine Todesangst

Nach dem Weißen und dem Roten jetzt das Goldene? Aber das gab es doch schon, auch wenn es eine Best Of war? Doch eigentlich sollte die Farbgebung des Artworks von "Golden years" eine untergeordnete Rolle spielen – mit Argusohren beäugt werden wird das 14. Tocotronic-Album aus vielen anderen Gründen. Der offensichtlichste: Es ist ein Tocotronic-Album. Allerdings eins, dem einiges vorausging: der Überfall auf die Ukraine, der dem Vorgänger "Nie wieder Krieg" beunruhigend aktuelle Tonalität verlieh. Die Auszeit von Gitarrist Rick McPhail, wegen der die Hamburger nun wieder zu dritt dastehen. Sowie die Fahrt aufnehmende Migrations-Debatte, in der sich Tocotronic per Engagement für Pro Asyl stets eindeutig positionierten, sowie das fortwährende Erstarken der Rechten. Als Kommentar fungiert die erste Single "Denn sie wissen, was sie tun", die man trotz des philosophischen Kunstbegriffs "Diesheit" im Text gerne als angestochenen Anti-AfD-Rocker hören darf. Ein Ruf zu den Waffen? Allenfalls ein pazifistischer.

Nichts könnte den Hanseaten nämlich ferner liegen als eine Platte voller Protestlieder. Und was der fantastische Vorabtrack scharf stellte, weichen Tocotronic gleich zu Beginn von "Golden years" elegant wieder auf – mit dem federnden, halbakustischen "Der Tod ist nur ein Traum", das Seelenverwandtschaft beschwört und die letzten Dinge sanft ins Reich der Fantasie verweist. Anders als in "Eure Liebe tötet mich" aus "Schall & Wahn" bleibt ein lärmendes Crescendo aus: Robuster gibt sich erst das weit aufgerissene "Bleib am Leben" mit klassischem Indie-Rock zwischen aufgerauten Pavement und weichstichigen Dinosaur Jr., ehe Keyboard-Flöten dieses mehr oder weniger Refrain-, aber keinesfalls reizlose Stück rund macht. In goldenen Zeiten leben Tocotronic deswegen noch lange nicht, und der Titelsong führt stattdessen ein sehnsüchtiges kleines Tourtagebuch: "Aber man muss dankbar sein / Wenn man den Leuten noch begegnet / Nicht nur als Klick auf Spotify." Am besten mit fluffigem Folk-Rock, der standhaft landauf, landab tuckert.

Womit Tocotronic dem Schnitter ein Schnippchen schlagen, ihre Relevanz nach über 30 Jahren Bandgeschichte festzurren und so erneut prächtig vom Start wegkommen. Und das, ohne direkt die besten Songs verpulvert zu haben. Einer davon ist der ungestüme Twang-Bolzen "Ein Rockstar stirbt zum zweiten Mal" – mit Dirk von Lowtzow in der Paraderolle als gepeinigtes Individuum. Scheitern wird zur Selbstglorifizierung, während der Sänger ein nicht allzu weinendes Auge auf die Mechanismen eines Business wirft, in dessen mahlendem Hamsterrad er sich seit geraumer Zeit selbst befindet: "Es ist nur ein Augenblick vom Paradies zum letzten Tritt." Ebenfalls ziemlich kurz: der nur scheinbar gut gelaunte Zweiminüter "Vergiss die Finsternis", in dem der Frontmann dem Bösen mit einem lapidaren "Finsternis ist Mist / Dennoch ist sie alles, was ist" gegenübertritt – fast wie bei seinem Gastauftritt als depressiv toleranter Hotelgast in der bizarren Miniserie "Die nettesten Menschen der Welt". Nicht exakt Rock'n'Roll, aber herrlich auf den Punkt.

Die an der Rätselhaftigkeit des Daseins knabbernden Slacker geben Tocotronic wie üblich nur noch selten. Etwa in "Mein unfreiwillig asoziales Jahr", das zu Jaul-Gitarre und windschiefen Streichern entweder die Corona-Isolation rekapituliert oder aber dem eigenen LoFi-Frühwerk zunickt. Der flackernde Dub-Reggae "Niedrig" hingegen beklagt omnipräsentes Niveaulimbo so umnachtet, als hätten sich Die Sterne für das ähnlich entrückte "Klebrig-vermutlich" die Geister-Mundharmonika von Clinic geborgt. Kein Außen mehr? Gut möglich, wenn das prächtig wogende, gniedelige Quasi-Epos "Wie ich mir selbst entkam" über Identität und Chaosmose brütet und "Der Seher" die Dynamik so weit anzieht, bis der pointierteste Hit herauskommt, zu dem man hier mit dem Popo wackeln kann. Man sollte sogar, denn wenig später heißt es: "Ich verbrenne jeden Tag einen neuen Song / Über die Todesangst, die mich besuchen kommt, wenn ich nicht schlafen kann." Die Folter endet nie. Dieses großartige Album nach gut 40 Minuten leider schon.

(Thomas Pilgrim)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Ein Rockstar stirbt zum zweiten Mal
  • Denn sie wissen, was sie tun
  • Wie ich mir selbst entkam
  • Der Seher

Tracklist

  1. Der Tod ist nur ein Traum
  2. Bleib am Leben
  3. Golden years
  4. Ein Rockstar stirbt zum zweiten Mal
  5. Denn sie wissen, was sie tun
  6. Mein unfreiwillig asoziales Jahr
  7. Niedrig
  8. Vergiss die Finsternis
  9. Wie ich mir selbst entkam
  10. Bye Bye Berlin
  11. Der Seher
  12. Ich schreibe jeden Tag einen neuen Song
Gesamtspielzeit: 41:38 min

Im Forum kommentieren

Glufke

2025-03-06 21:01:02

Der Tod ist nur ein Traum 8
Bleib am Leben 7
Golden years 8
Ein Rockstar stirbt zum zweiten Mal 8
Denn sie wissen, was sie tun 7
Mein unfreiwillig asoziales Jahr 8
Niedrig 6
Vergiss die Finsternis 5
Wie ich mir selbst entkam 7
Bye Bye Berlin 6
Der Seher 7
Ich schreibe jeden Tag einen neuen Song 7

Auf einem Niveau mit "Nie wieder Krieg" würde ich sagen. Und damit im unteren Drittel der Diskografie.

kingsuede

2025-03-06 20:37:09

Weit hinter Nie wieder Krieg und auch Die Unendlichkeit.

kingsuede

2025-03-06 20:29:37

Der Tod ist nur ein Traum 7
Bleib am Leben 5
Golden years 8
Ein Rockstar stirbt zum zweiten Mal 4
Denn sie wissen, was sie tun 7
Mein unfreiwillig asoziales Jahr 7
Niedrig 8
Vergiss die Finsternis 5
Wie ich mir selbst entkam 8
Bye Bye Berlin 3
Der Seher 8
Ich schreibe jeden Tag einen neuen Song 7

Glufke

2025-03-06 18:37:29

"Alles in allem ein okayes Album mit Stärken und Schwächen. Ich freu mich schlicht, dass sie weitermachen und Messages der Menschlichkeit senden, davon brauchen wir in diesen Zeiten mehr denn je. Vorfreude auch aufs Konzert."

Das fasst es auch für mich gut zusammen. Den ersten Durchgang hatte ich tatsächlich abgebrochen, jetzt hab ich es aber einige Male gehört und würde eine knappe 7/10 geben.

Meine drei größten Probleme mit dem Album:

1. Es kommt bei mir nie ein Album-Flow auf. Es wirkt wie eine (gute) Restesammlung übriggebliebener Songs der letzten Jahre.

2. Es gibt kein großes Highlight. Alle Songs rangieren zwischen okay bis (sehr) gut. Aber es sind keine fantastischen oder überragenden Lieder dabei. Der Vorgänger hatte immerhin u.a. das grandiose "Ich tauche auf".

3. Manche Textzeilen stören mich schon ziemlich in ihrer Kinderreimhaftigkeit (z.B. in "Bleib am Leben" oder "Vergiss die Finsternis").

Nichtsdestotrotz sind aber insgesamt einige schöne Songs drauf, die ich nicht missen möchte (Opener, Rockstar, Golden Years, Closer).

dieDorit

2025-03-06 18:08:03

Das ist wahrscheinlich auch der Grund warum mir ausgerechnet diese Songs so gefallen, weil die halt wie die Tocos klingen, wie ich sie am liebsten mag.

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