Bryan Ferry - Retrospective: Selected recordings 1973 - 2023
BMG / UniversalVÖ: 25.10.2024
Kapazität mit Kapazitäten
"Früher habe ich mir schlechte Kritiken furchtbar zu Herzen genommen", so Bryan Ferry 1988. Wann früher wohl war? Anfang der Siebziger, als der damalige Sänger von Roxy Music samt Band höchst flamboyant auftrat, sich mit Brian Eno überwarf und mit "In every dream home a heartache" eine Ode an eine Sexpuppe schrieb? Allen Kritikern zum Trotz feiert der Brite 2023 ein halbes Jahrhundert Karriere. In deren Verlauf er etwa zeitgleich mit David Bowie den Prototyp des libertinären Glam-Rock-Frontmanns erfand, von ABCs Martin Fry über Brett Anderson bis hin zu Jarvis Cocker zahlreiche Künstler beeinflusste und immer mehr zum Elder Statesman des Sophisti-Pop wurde. Auch als Chef des Bryan Ferry Orchestra und Nachtclubsänger in "Babylon Berlin" macht er eine gute Figur. Ein "Guardian"-Kolumnist wollte Ferry einmal sogar in die Tate Modern verfrachten.
Zeit also für die bisher dickste Werkschau seiner Solo-Laufbahn – zumal Ferrys eigene Diskografie längst breiter ist als die von Roxy Music. 20 Songs aus 50 Jahren sind zwar keine Unmenge, aber gemäß Anspruch an eine Best-Of-Zusammenstellung ziemlich repräsentativ. Wer tiefer in die Tasche greifen möchte, kann sich genauso gut die 5-CD-Box besorgen, die zusätzlich je einen Tonträger mit Eigenkompositionen, Coverversionen, Orchesterfassungen und Raritäten enthält. Leichtes Handicap: Ausgerechnet "Star", einziges neues Stück dieser Compilation und mit Hilfe von Nine Inch Nails erstaunlich giftig eingerumpelt, ist kein Teil der abgespeckten Version. Erwähnt gehört er dennoch – und beweist außerdem, dass Ferry als ausgewiesene Kapazität stil- und geschmackvoller Popmusik auch im Alter von 79 Jahren noch genug Kapazitäten für die Zukunft hat.
Doch von der soll auf "Retrospective" naturlich nicht die Rede sein. Denn gerade Ferrys Solo-Platten bestanden häufig und teilweise ausschließlich aus Coverversionen – oft von populären Standards wie dem aus "Casablanca" bekannten "As time goes by" oder dem Herzreißer "These foolish things", die zuweilen bis in die 1930er-Jahre zurückreichen. Ein wenig, nun ja, neuer: der Rhythm'n'Blues-Swing "The 'in' crowd", in den Sechzigern von Ramsey Lewis geschrieben sowie von Dobie Gray gesungen und 1974 von Ferry mit Stromgitarren und Bläsern mitreißend interpretiert. Besonders angetan hatte es ihm von jeher Bob Dylan, dessen "A hard rain's a-gonna fall" auf dieser Compilation direkt zu Anfang rockt und rollt – mit "Dylanesque" widmete Ferry ihm gleich ein ganzes Album. Obwohl es die eher pflichtschuldige "Knockin' on Heaven's door"-Fassung hier nicht noch einmal gebraucht hätte.
Unverzichtbar hingegen: der aufgekratzte Heuler "Let's stick together", den Wilbert Harrison 1962 auch nicht besser hinbekommen hätte. Und je mehr es auf "Retrospective" am Post-Punk-Schlenker "Sign of the times" vorbei in die Achtziger geht, umso deutlicher tritt Ferrys Vorliebe für in Glitzer-Cellophan gewickelten Gentleman-Pop zutage, wie ihn schon Roxy Music mit "Oh yeah" oder "More than this" durchexerziert hatten. Das hinreißende "Slave to love" betört mit Crooning, Background-Ladies und Schreng-Riffs am Vorabend von Shoegaze, das federnde "Don't stop the dance" straft seinen Titel dank flockigster Groove-Qualitäten Lügen. Diskret ätzend hingegen: "Kiss and tell", das Ferry vermutlich an die Adresse seiner Ex Jerry Hall richtete, da diese Details der Beziehung in Buchform veröffentlicht hatte. Auch elegantes Dandytum kennt nun mal Grenzen.
Gleiches gilt für "Retrospective", dessen zweiten Teil Ferry mit einigem verhuschtem Balladieren bestreitet. Screamin' Jay Hawkins' "I put a spell on you" hat die Pop-Welt bereits zwingender gehört, und "Your painted smile" oder "Which way to turn" gehören nicht zu seinen stärksten Kompositionen. Und warum das zusammen mit Johnny Marr eingespielte "The right stuff" und damit Ferrys stärkster Club-Track überhaupt fehlt, weiß wohl nicht einmal der olle Morrissey. Zu "You can dance" geht's gegen Ende trotzdem in die Zappelbude, und die unter der Regie von Todd Terje am "Twin Peaks"-Soundtrack schnüffelnde Umdeutung von Robert Palmers "Johnny & Mary" scheint ein weiteres Ferry-Zitat von 1988 zu bestätigen: "Über kurz oder lang werde ich wohl andere Ausdrucksformen finden müssen." Wir wünschen viel Glück bei der Suche – und lächeln zufrieden.
Highlights & Tracklist
Highlights
- The "in" crowd
- Let's stick together
- Slave to love (7" version)
- Don't stop the dance
- Kiss and tell (2023 edit)
- Johnny & Mary (2023 edit)
Tracklist
- A hard rain's a-gonna fall
- These foolish things (2023 edit)
- The "in" crowd
- Smoke gets in your eyes
- Casanova
- Let's stick together
- Sign of the times
- Slave to love (7" version)
- Don't stop the dance
- Windswept
- Kiss and tell (2023 edit)
- As time goes by
- Your painted smile
- I put a spell on you (Single mix)
- Which way to turn
- Knockin' on Heaven's door (2023 edit)
- Make you feel my love
- You can dance (2023 edit)
- Love letters
- Johnny & Mary (2023 edit)
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Armin
2024-11-30 22:44:24- Newsbeitrag
Frisch rezensiert.
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