Opeth - The last will and testament
Reigning Phoenix / Rough TradeVÖ: 22.11.2024
Paragraphenreiter
Fans können ja manchmal so undankbar sein. 2011 gerieten die Anhänger von Opeth in Aufruhr. Der Grund: Mit dem Album "Heritage" frönten die Schweden und insbesondere Frontmann Mikael Åkerfeldt ihrer Liebe zum Progressive Rock. Weg mit den Death-Metal-Shouts, her mit verspielten Arrangements direkt aus den Siebzigern. Die im Übrigen schon immer irgendwie da waren, nur nicht ganz so offensichtlich. Und spätestens als Åkerfeldt in einem Interview verlauten ließ, Metal habe für ihn seinen rebellischen Charakter verloren, galt er bisweilen gar als Nestbeschmutzer. Die folgenden Alben, so hochklassig sie auch immer waren, wurden fortan zwar akzeptiert, doch immer wieder hieß es: "Ja, ganz prima, aber die alten Sachen ..." Als ob ein kreativer Kopf wie Åkerfeldt jemals auch nur im Traum daran denken würde, so etwas wie "Watershed part 2" zu produzieren. Die Ankündigung, das neue Album "The last will and testament" würde wieder mit reichlich Growls aufwarten, stieß demzufolge bei den Nostalgikern auf große Verzückung. Nur um dann zu erfahren, dass es sich um ein Konzeptalbum handele, bei dem unter anderem Ian Anderson einen Gastauftritt bekommen sollte. Was denn nun, Prog oder Death?
Es klingt also zunächst danach, als wollten die Schweden nun alle Lager ihrer Fanbasis vollends vor den Kopf stoßen. Die erste Reaktion nach ein, zwei Durchläufen ist jedoch nahezu identisch. Fassungslosigkeit. Überraschung. Die plötzlich auftretende Gier, die Platte nochmal zu hören. Und dann dämmert es langsam: Hier ist etwas ganz Besonderes entstanden. Handeln wir erst einmal das Offensichtliche ab. Ja, Åkerfeldt growlt wieder. Allerdings hat er immer betont, die Stimmung eines Songs bedinge den Gesangsstil. Also im Grunde genommen ganz natürlich, diesmal eben weniger Klargesang, mehr derbe Düsternis. Die Story – für sich genommen schon filmreif. Nach dem Tod eines Firmenpatriarchen, irgendwann um 1920 herum, versammelt sich die Familie zur Testamentseröffnung (deshalb die Songtitel, die sich an den Paragraphen des Testaments orientieren), bekommt aber alles andere als das zu hören, was sie möchte. Doch auch diese Geschichte rückt zunächst in den Hintergrund.
Denn was Opeth daraus machen, stellt alles in den Schatten, was die Schweden bislang produziert haben. Ja, auch "Watershed" und "Ghost reveries". Und Metal, zumindest in dem klassischen Sinn, den sich manche wünschen, ist das schon lange nicht mehr ausschließlich. Schritte. Eine Tür öffnet sich. Ein nervöser Basslauf startet "§1", zunächst unterfüttert von jazzigen Drums, dann in einen mörderischen Groove mündend. Und die entscheidenden Verse, die wie eine Drohung klingen: "I will here unearth my secrets I've been hiding / And guide my children through my trials." Der ersehnte Reichtum wird also zur Abrechnung. Plötzlich ein harter Schnitt, doch die vermeintlich seichten Streicher klingen sinister wie in den Poe-Adaptionen auf "Tales of mystery and imagination" von The Alan Parsons Project. "§2" legt noch eine Schippe drauf, wechselt ansatz- und bruchlos zwischen Prog und wüstem Death Metal, während Jethro Tulls Ian Anderson als eine Art Erzähler die Fäden zusammenhält. Dass auch Joey Tempest von Europe ein paar Gastvocals beisteuert, geht angesichts dieser Virtuosität beinahe unter.
Hieß es eben "mehr als Metal"? Dann auf zu "§3". Was alleine hier in gerade einmal fünf Minuten passiert, schaffen andere nicht im Laufe ihrer Karriere. Und hier ist keine Note zu viel, nicht ein Iota überfrachtet. Kaum weilt man wieder unter dem Kopfhörer, um auch die letzte Feinheit zu entdecken, fliegt das gute Stück schon wieder ins Eck, weil's beim Ausrasten stört. Aber halt, wieso ist der Takt so krumm, was macht das Break hier? Das ist Kopfkino vom Allerfeinsten, das jegliche musikalischen Grenzen einreißt und doch virtuos Prog und Metal vereint. Erst recht, wenn Anderson bei "§4" dann endlich zu seinem Hauptarbeitsgerät Querflöte greift und Åkerfeldts wahnwitzige Schreie förmlich davonschweben lässt. Doch die Ruhe ist trügerisch: Wütende Growls brechen sich Bahn, befeuert durch eine wahre Metal-Eruption.
Kurze Highlights, ein Strohfeuer gar? Im Gegenteil. Jeder einzelne Song ist ein Statement, ein Ausloten der Möglichkeiten, ein Festspiel der Virtuosität. Stimmungen wechseln sich in rasender Folge ab, auf krachende Riffs folgt stilsicher eine tiefe Verneigung vor den unterschiedlichsten Vorbildern vom exaltiertem Canterbury-Sound bis zu Scott Walker, selbst Ennio Morricone schleicht sich bei "§6" kurz ins Kopfkino. Dass das alles nicht völlig wirr klingt, ist die ganz hohe Kunst des Songwritings, dazu kommt eine Band, die all dies in Perfektion umzusetzen imstande ist – alleine das Spiel des neuen Schlagzeugers Waltteri Väyrynen ist schlicht absurd gut, und Paradise Lost dürften sich noch eine Spur mehr ärgern, dass sie diesen Ausnahmekönner ziehen lassen mussten. Erst der Epilog "A story never told" lässt etwas Luft zum Innehalten, lässt die Gedanken schweifen und führt unweigerlich zu der Frage, was da jetzt noch kommen soll. Denn egal, ob "The last will and testament" irgendwann in die Metal-Ruhmeshalle aufgenommen wird oder nicht – für diesen Moment, in dieser Zeit haben Opeth sich und der kompletten Genre-Welt gezeigt, was möglich ist – ein Album, an dem sich nicht nur die Schweden selbst noch viele Jahre messen lassen müssen und für das jede einzelne Lobeshymne gerechtfertigt ist. Ob nun mit oder ohne Growls.
Highlights & Tracklist
Highlights
- §3
- §4
- §5
Tracklist
- §1
- §2
- §3
- §4
- §5
- §6
- §7
- A story never told
Im Forum kommentieren
Klaus
2025-01-14 17:14:50
Glaube, mit mehr Durchläufen wäre das in den Top10 des Jahres gelandet. Auch hier die 8, wenngleich nach wie vor wenig hängen bleibt, außer der Wunsch es immer mal wieder zu hören.
The MACHINA of God
2024-12-27 16:25:10
Hierkannmanprken:
Jopp. Defintiv steifer als KGLW, aber trotzdem mag ich die Achterbahnfahrt der ersten 7 Songs sehr. Derzeit so 8,2/10.
Hierkannmanparken
2024-12-15 22:03:51
Mastodon und KGLW sind aber auch zwei Bands, bei denen sich alle Mitglieder kreativ einbringen. Bei Opeth fügt man sich im Grunde Akerfeldts Demoaufnahmen. Das spielt sicherlich auch ne Rolle bei der mangelnden Lockerheit.
fakeboy
2024-12-15 18:10:45
Riffs und Breaks ja. Aber halt auch diese unglaublich anstrengende Ernsthaftigkeit und dieser Pathos, mit dem ich irgendwie nichts mehr anfangen kann. Mir fehlt eine gewisse lustvolle Verspieltheit, wie sie Mastodon oder auch King Gizzard haben. Opeth sind einfach soooooo seriös.
The MACHINA of God
2024-12-15 14:49:38
Bisschen wie letztes Jahr "Petrodraconic"... ein Fest an Riffs und Breaks.
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