Merce Lemon - Watch me drive them dogs wild

Darling / Cargo
VÖ: 27.09.2024
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Vogelfrei

In der amerikanischen Indie-Szene lässt sich schon seit geraumer Zeit ein Trend beobachten. Wo seit langem schrammelnde Gitarren und punkige Frustration als primäre Stichwortgeberinnen eines DIY-Ethos gelten, der Gesellschaftskritik in persönlicher Intimität verankert, tritt vermehrt ein neues Vokabular hinzu. Oder vielmehr: kehrt ein altes zurück. Ob in den filigranen Kompositionen von Big Thief, dem erdigen Sound von Waxahatchee oder der zerknautschten Alltagsmelancholie eines MJ Lenderman – allerorten greifen die Hände nach dem Country als traditionellem Sound gebeutelter Existenzen. Der war natürlich nie so konservativ, wie er im Mainstream gerne verkauft wurde, um seine subversive Klarheit zu vernebeln. Auch Merce Lemon aus Pittsburgh spielt auf ihrem Zweitling "Watch me drive them dogs wild" eine rohe, alternative Form des Country-Rock; ihre charismatischen Songs wollen sich offenbaren, um Platz zu schaffen für andere Blicke, andere Menschen.

Lemons Songs werden dabei meist von einem Ernst getragen, der niemals zu sehr sich selbst gilt und darum auszuhalten ist. Dafür sorgt vor allem der formidable Opener "Birdseed", der mit abgehangenen Licks und Fiddle sein Alt-Country-Gewand angenehm ungebügelt lässt. Xandy Chelmis, der auch in MJ Lendermans Stammband Wednesday für kreative Gitarrenarbeit verantwortlich zeichnet, spielt die gebrochen-sehnsüchtige Pedal Steel. Lemons Stimme, kratzig und weich in gleichen Teilen, lässt ihre Erzählerin beim Blick in den Spiegel Körner in den Zahnzwischenräumen entdecken und imaginiert sich daraufhin gemäß ihrem Speiseplan als Vögelchen. Eines, das beobachtend durch die Welt schwirrt, aber vor allem anderes im Schilde führt. "And my droppings land where you're walking", grinst Lemon und zwitschert zum amüsanten Rachefeldzug: "I'm the bird that sings so goddamn loud / It wakes you up at dawn." Auf halber Strecke von Wunsch zu Witz beginnt "Watch me drive them dogs wild", doch bald schon schlägt vor allem Schwermut durch.

Das spannungsgeladene "Backyard lovers" montiert Bilder sozialer und romantischer Isolation mit solchen des Verlusts, setzt zunächst behutsame Pinselstriche und überrascht darum umso mehr, wenn Lemon ihr Verdikt in der Klimax gefasst wiederholt: "You fucking liar". Die Gitarren reißen den Verzerrer auf und toben los, was auch im defätistischen Slacker-Rock von "Foolish and fast" zum Bezugspunkt wird. "I'll keep drinking, it won't matter / Just remember that I once had her", murmelt Lemon zwischen Selbstironie und unverblümter Lust am Liebeskummer. Die lyrisch-sanfte Stimmungsskizze "Rain" und das düstere "Window" artikulieren dagegen die Angst vor der Einsamkeit, der pandemiebedingte Quarantänen den Weg bereitet haben. In seinen markanten Schlussversen assoziiert "Window" Depression und Einsamkeit – Lemon harmoniert mit sich selbst, wodurch der Effekt nur stärker nachhallt: "And in the wanderings of my nothingness / In a wading through of uncrossed lists."

Zwar finden sich die intensivsten Momente des Albums fast durchgehend in der ersten Hälfte, was die Dramaturgie etwas in Schieflage geraten lässt. Doch sind es die kleinen Hoffnungsschimmer, die auch der B-Seite Tiefe verleihen. Ob das Gespräch sinnlicher Körper in "Slipknot" ("My lover comes, she rests her head / She warms my lap with her hot breath") oder der Titeltrack als sphärischer Ausklang, der im Geruch des Waldes Gemütsruhe zu finden hofft: Lemon sucht, ringt, flucht und müht sich nach Kräften, um irgendwo aufgehoben zu sein. Vor allem aber nimmt sie wahr – die Grundlage guten Songwritings. Da stört es kaum, dass "Watch me drive them dogs wild" nichts bahnbrechend neu macht und sich manche Songs im leisen Beginn und den langsam anschwellenden Gitarren kompositorisch ähneln. "Crow" fungiert in diesem Sinne als warmherziges Komplement zu "Birdseed", das die Perspektive wechselt und aus alten Wunden Zukunft liest: "I'd make a city of this ghost town / Even let the crows come / Rest their necks and nest their young."

(Viktor Fritzenkötter)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Birdseed
  • Backyard lover
  • Foolish and fast

Tracklist

  1. Birdseed
  2. Backyard lover
  3. Window
  4. Foolish and fast
  5. Rain
  6. Crow
  7. Slipknot
  8. Blueberry heaven
  9. Watch me drive them dogs wild
Gesamtspielzeit: 68:31 min

Im Forum kommentieren

Armin

2024-11-13 20:40:51- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

Meinungen?

myx

2024-10-16 07:23:47

Hab's mir gestern zur Gänze gegönnt, hat sich auf jeden Fall gelohnt. Stärkster Song für mich "Foolish and Fast".

myx

2024-10-15 08:58:44

Muss ich mir komplett anhören, könnte mir auch sehr gut gefallen.

saihttam

2024-10-10 22:28:39

Fands nach den ersten beiden Durchgängen sehr stark. Genau die richtige Mischung aus flotteren Country-Nummern und ruhigeren Folk-Momenten.

MickHead

2024-10-09 09:54:01

Die amerikanische Folk-Rock Sängerin "Merce Lemon" aus Pittsburgh, Pennsylvania, veröffentlichte am 27.09. ihr hervorragendes 2. Album "Watch Me Drive Them Dogs Wild". Es folgt auf das Debüt "Moonth" von 2020.
Genre: Folk-Rock, Indie-Rock, Folk, Americana

"Foolish And Fast" (YouTube)

https://www.youtube.com/watch?v=yCnqq_17Ljw

"Backyard Lover" (YouTube)

https://www.youtube.com/watch?v=aDlVy0Db87w

"Watch Me Drive Them Dogs Wild" (YouTube)

https://www.youtube.com/watch?v=tQdUkhT-NwE

"Watch Me Drive Them Dogs Wild" (2024) bei Bandcamp:

https://mercelemon.bandcamp.com/album/watch-me-drive-them-dogs-wild

"Moonth" (Debüt 2020)

https://mercelemon.bandcamp.com/album/moonth-2

JPC schreibt:

In den ruhigen, verwinkelten Ecken von Pittsburgh lebt eine Gemeinschaft - im Grunde eine große Familie - die sich über Nachbarschaften und Generationen erstreckt. Auf diesem Fundament hat Merce Lemon ihr neuestes Album aufgebaut: »Watch Me Drive Them Dogs Wild«.

Es sind ernste Lieder über Zugehörigkeit und Sehnsucht, in denen romantische und familiäre Liebe in einem Strudel der Abrechnung in sich selbst hinein- und wieder hinausfließen. In dieser Verletzlichkeit liegt eine Wildheit, eine Hartnäckigkeit, die mit der Wildheit ihrer Band übereinstimmt. Merce zog sich nach der Veröffentlichung ihres Debütalbums Moonth im Jahr 2020 von der Musik zurück, um sich neu zu orientieren.

»Musik war einfach etwas, das ich immer gemacht hatte, und ich wollte die Magie davon nicht verlieren - aber ich hatte einfach weniger Spaß daran.« In dieser Zeit der ruhelosen Verwirrung kehrte sie zu ihren Wurzeln zurück. »Ich machte mich schmutzig und schlief die meiste Zeit des Sommers draußen. Ich lernte viel über Pflanzen und Landwirtschaft, schrieb einfach für mich selbst, und in dieser Zeit sammelte ich langsam Songs an.« Ein kreativer Hunger, der von ihrer Gemeinschaft unterstützt wurde, war neu befruchtet worden. Aus dieser Wiederentdeckung, durchdrungen von der Vitalität der grünen Magie der Erde, spross Watch Me Drive Them Dogs Wild.

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