Lyschko - Niedergang II
My Favourite Chords / Broken SilenceVÖ: 25.10.2024
Genähte Herzen
Und jetzt die Wettervorhersage: "Es wurde gar nicht richtig dunkel / Jetzt wird's gar nicht richtig hell." Wäre ja auch eine himmelschreiende Verschwendung, wenn das nordrhein-westfälische NNDW-Trio Lyschko nun die Sonne in seine Musik einziehen lassen würde. Hinter zugezogenen Vorhängen hat die Band zielstrebig experimentiert, hat 2000er-Indie-Codes, obskure 80er-Antiquitäten namens Gothic oder Darkwave und die Zutat X – nennen wir es einmal das "gewisse Etwas" – perfekt aufeinander abgestimmt und trifft damit im zweiten Anlauf den alles entscheidenden Nerv. Die Kreatur lebt: Mit "Niedergang II" erschaffen Lina Holzrichter und ihre Mitstreiter*innen den ersten Meilenstein ihrer postmodernen, gleichermaßen geliebten wie argwöhnisch betrachteten Musikrichtung. Nach "Brennen" ist das nur folgerichtig, überrascht dann aber doch in seiner Selbstverständlichkeit.
Man mag zunächst erschrecken bei der Feststellung, wie unverschämt eingängig es auf dem Album zugeht. "Nichts versprechen" verkleidet sich als schlageresker Deutschpop, das musikalische Kostüm beißt sich allerdings herrlich mit dem schon beinah grenzwertigen Emo-Text. Holzrichter singt von zerrissenen Kehlen, erstickten Schreien und absterbenden Körpern, während die versammelte Indie-Disko ausgelassen dazu tanzt. Dieses Oversharing zieht sich durch das ganze Album, und wie bei ihren musikalischen Grenzgängen schreckt die Band auch textlich vor keinem "Zuviel" zurück. Das schließt selbst die konsequente Perspektive und Ausdrucksweise liebeskranker Teenager mit ein: "In meinem Zimmer fällt der Schnee." Gänzlich ausformuliert wird dieser Ansatz in "Ein letztes bisschen Leben", das zum Einstieg denkbar kitschige Chöre auffährt. Und am Ende doch kein Kitsch ist.
Nicht auszumalen, wie vielen heute erwachsenen Kids die Band durch die ersten schlimmen Phasen geholfen hätte, wenn sie während deren Adoleszenz im Musikfernsehen gelaufen wäre. Die erste Single "Staubtanz" ist ein mitreißender Rocker, der auf die folgenden Großtaten einstimmt: Derart stilsicher wie in "Was Du denkst" wurde eine Wave-Kante wohl noch nie im Pop-Punk verbaut, wenn Holzrichter versucht, ihre und fremde Gefühle nach einem komplizierten Beziehungs-Aus auseinanderzudividieren. Ins Epizentrum des Herzschmerzes legt sich das anschließende "Sag mir, was Stille heißt", das seine funkelnden Synthpop-Tendenzen zugunsten einer zentnerschweren Mörder-Ballade zügelt, die nicht zuletzt von der außergewöhnlichen Stimme der Sängerin veredelt wird. Das lyrische Ich löst sich vollständig im Gegenüber auf und verzehrt sich in seinem Verlangen – schöner lässt sich Selbstaufgabe nicht in Töne fassen.
"Winter" klingt derweil, als hätte man Juli lange genug in der Tiefkühltruhe gelassen, damit sie anfangen, von Dreampop zu halluzinieren. Und in "Nebel" schaut ein metaphorischer Robert Smith zerzaust aus seiner Bettwäsche hervor und freut sich über den gnadenlosen Ohrwurm. Dem Grufti-Adel von The Cure haben Lyschko bereits in einem früheren Videoclip Tribut gezollt, jetzt fallen sie endgültig vor den Vorbildern auf die Knie. Auch "Tagträume//Albträume" setzt ganz auf konsequente Wave-Arbeit – nicht umsonst waren Lyschko einst die Ersten, die sich gedacht haben, ihre Musik könne als "Neue Neue Deutsche Welle" bezeichnet werden. Mit "Niedergang II" erobern sie sich den Titel als Genre-Begründer*innen endgültig zurück.
Im düster wummernden "Lauter" und dem Opener "Im April" wird krachender Post-Punk wie auf dem Debüt angezettelt, am Ende zieht "Regenwasser" einen elegischen Schlussstrich: "Und ich weiß nicht, was noch stimmt / Oder was es bringt / Bin doch noch ein Kind." Lyschko haben ihre Leben noch vor sich, schütteln die Hits aber aus den lederbejackten Armen, als sei es das Einfachste auf der Welt. Ihre altmodischen Inspirationsquellen überführen sie unbeschadet in die Generation-Z-Community und deren Themen und kreieren somit etwas gänzlich Eigenständiges. Zwischen vertrauter Teenage Angst und bittersüßer (Neu-)Romantik kommen Form und Inhalt dermaßen schlüssig zusammen, wie es gerade im deutschsprachigen Raum eine bedauernswerte Seltenheit ist. Oder aber jene beiden Aspekte reiben sich im genau richtigen Maße aneinander, um den größtmöglichen Synergieeffekt zu erzielen: "Niedergang II" ist das mutigste und intensivste Album, das bei dieser Herangehensweise möglich war. Und Lyschko werden hiermit hochverdient zu Deutschlands grandiosester Emo-Goth-Pop-Band gekürt.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Was Du denkst
- Sag mir, was Stille heißt
- Nebel
- Maria (Mein Herz zerbricht)
- Regenwasser
Tracklist
- Im April
- Staubtanz
- Was Du denkst
- Sag mir, was Stille heißt
- Nichts versprechen
- Winter
- Lauter
- Nebel
- Ein letztes bisschen Leben
- Maria (Mein Herz zerbricht)
- Tagträume//Albträume
- Regenwasser
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Kai
2024-10-25 10:32:51
Was du denkst lief gerade bei Spotify und ich dachte "oh das gefällt". Dann fing der Gesang an und ich musste direkt stoppen.
Lese hier und sehe: ich bin nicht allein.
oldschool
2024-10-23 21:43:49
Der Rosenstolz Vergleich passt bei dem Song vielleicht (und dem Gesang) - generell und musikalisch nicht.
Du meinst ob man den Gesang nach einigen Durchgängen ertragen kann? :)
Probiere es aus und teile uns das Ergebnis mit.
BunteKuh
2024-10-23 21:38:34
Ich fremde auch etwas mit dem Gesang und den Texten. Der Rosenstolz - Vergleich passt da schon irgendwie.
Musikalisch gefällt es mir aber. Ob das Album nach öfteren Hören besser wird?
oldschool
2024-10-23 21:22:59
geht auch mir so. Musikalisch echt interessant. Toller Gitarrensound. Der Gesang ist aber verdammt anstrengend und macht die Sache unhörbr für mich. Gibts ne deluxe edition mit instrumental Versionen als Bonus CD? ^^
kenny23
2024-10-23 11:54:46
Ja, geht mir auch so. Der Gesang ist nicht mein Ding.
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