Thurston Moore - Flow critical lucidity
Daydream Library / CargoVÖ: 27.09.2024
Schlafes Bruder
Es ist eine illustre Truppe von Musikerinnen und Musikern, die Thurston Moore auf seinem achten Soloalbum jenseits von Sonic Youth versammelt: Jem Doulton – er hat unter anderem für Lene Lovich, Roisin Murphy und Pando Pando getrommelt – sitzt an Drums und Percussion. Den Bass zupft Deb Googe, die man in erster Linie von My Bloody Valentine kennt, während Jon Leidecker (Negativland) sparsam elektronische Klangwelten hinzufügt und James Sedwars (Nøught) Thurston Moore an der Gitarre sekundiert. Wer jetzt allerdings mutmaßt, dass hier hochenergetische Schrammelei, aufgetürmte Shoegaze-Gitarrenwände und experimentelle Noise- und Feedbackorgien zu erwarten sind, wird schnell eines Besseren belehrt. Denn ganz so einfach ist es eben nicht.
"Flow critial lucidity" ist insgesamt ein eher leises Album, zumindest ein vordergründig unaufgeregtes. Wer das Schaffen von Thurston Moore über die letzten Jahrzehnte verfolgt hat, der weiß: Moore war, anders als Lee Ranaldo, schon bei Sonic Youth im Zweifelsfall derjenige, der mit geringerem Aufwand Effekte erzeugt hat. Manchmal reicht es halt schon, den Gitarren-Amp ordentlich aufzureißen und dann einfach nur ein paar vergleichsweise spartanische Fingerübungen anzustellen – oder die Gitarre mit einem ungewöhnlichen Tuning zu spielen. So ist das auch hier: Bis auf eine Ausnahme ("Rewilding") kommt das gesamte Album im getragenen, zuweilen fast schleppenden Tempo daher. Während eines der Markenzeichen von Sonic Youth immer eine gewisse Terrassendynamik – also schroffe Wechsel zwischen Leise und Laut – war, scheinen Thurston Moore und die Seinen dynamisch fast schon mit angezogener Handbremse zu fahren. Allerdings: Mit lustvoll bis zum letzten Knacken angezogener Handbremse, denn das Weglassen eines fulminanten Ausbruchs – den man an vielen Stellen geradezu ersehnen mag - kann bekanntermaßen auch für eine ganz eigene Spannung sorgen. Tantra statt Tschingderassabumm, quasi.
Es geht, das verraten die Liner Notes, in diesem Album viel um Traumwelten. Insbesondere das sehr starke "Hypnogram" handelt von einem Liebespaar zwischen Wachen, Tiefschlaf und luziden Träumen. Sehr spannend und glaubwürdig, wie Thurston Moore diese ganz eigene Stimmung erkundet. "Sans limites" wiederum erinnert noch am ehesten an Sonic Youth in Vollbesetzung, es wirkt wie eine Fortsetzung des elegischen "Massage the history" von "The eternal", mit minimal angezerrtem Gitarrengegniedel, fahlem Gesang und reichlich Zeit, die vergeht, bis sich die Drums nach einer langen Exposition hinzutrauen. Seinem Namen alle Ehre macht dann auch "We get high", das sich als knapp sechseinhalb Minuten langer vertonter Drogenrausch präsentiert. Hier trifft eine Kinderspieluhr auf monströse Gitarrensounds, während Jon Leidecker allerlei Britzeln und Bratzeln hinzufügt – und Thurston Moore mit finsterer Stimme geheimnisvoll raunt: "Mountain meadows are the shrines / All I see / Alpine hills came to life / All I see." Der optimale Soundtrack für einen lysergsauren Trip, aus dem man nur schwer herausfindet. Richtig mysteriös wird es dann am Schluss: "The diver" handelt von einem Taucher, der während der Entstehung des Albums im Genfer See verschollen ist. Volle acht Minuten lang nimmt einen die Band um Thurston Moore in eine tiefe Unterwasserwelt mit, in der es mal verheißungsvoll schimmert und in allen Farben leuchtet – die aber am Ende auch eine kühle und endgültige Grabstätte ist.
Ja, Thurston Moore mag die eine oder andere Erwartungshaltung unterlaufen. Wer auf die Fortsetzung von Sonic Youth mit anderen Mitteln hoffte, der wird möglicherweise enttäuscht, weil es hier eben nicht vordergründig-energetisch zugeht, sondern fast durchweg verhalten und zurückgenommen. Und doch nimmt einen "Flow critical lucidity" spätestens beim dritten Durchgang nachhaltig mit: weil es zeigt, dass Intensität auch ohne wilde Ausbrüche und nach vorn treibende Gitarrenarbeit möglich ist. Und dass auch in der Zwischenwelt, der Traum- und Schlafwelt, untergründig ganz schön was los sein kann. Wer schläft, sündigt vielleicht nicht, kann deswegen aber trotzdem so einiges erleben.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Hypnogram
- The diver
Tracklist
- New in town
- Sans limites
- Shadow
- Hypnogram
- We get high
- Rewilding
- The diver
Im Forum kommentieren
u.x.o.
2024-10-03 08:44:05
Mich lässt das Album tatsächlich gar nicht mehr los. Höre es ständig und es wächst stetig... Irgendwie schon ein heißer heimlicher AOTY Kandidat. Selbst Hypnogram höre ich mittlerweile nicht mehr als störend, wenn auch immer noch als schwächsten Song der Platte.
Einzig das Sequenzing finde ich etwas odd. Zumindest in der digitalen Version sind diese seltsamen 10 Sekunden-Löcher zwischen den Songs, das stört den Albumflow meinem Empfinden nach gewaltig. Frag mich, wie so etwas passieren kann. (Wer nickt das am Ende ab? Ich meine, irgendwer muss das Ding doch final durchgehört haben.)
noise
2024-10-02 21:58:07
Hm, in dem Redaktionscheck der VISIONS auf dem vorletzten Platz mit Note 5,9 / 12. Ist mir zwar egal, aber schon ein bisschen merkwürdig. Mir gefällt jedenfalls was ich bislang gehört habe.
Lucas mit K
2024-09-25 16:44:37
Schönes Album. „New in Town“, „Sans Limites“ und „We Get High“ sind meine Highlights.
Armin
2024-09-23 21:17:07- Newsbeitrag
Frisch rezensiert.
Meinungen?
u.x.o.
2024-09-23 08:08:24
Habe die heute Morgen durch Zufall bei den Tidal Neuheiten entdeckt und bin instantly hooked! Mit gefällt das psychedelisch mäandernde des Sounds ausgesprochen gut. V.a. We get high und The diver stechen heraus. Im Grunde finde ich lediglich Hypnogram auf dem ersten Ohr lyrisch etwas holprig, ansonsten alles richtig gut!
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