Amigos - Stimmen der Nacht

Telamo / BMG
VÖ: 20.09.2024

Sex, Drugs und Fernsehgarten

Bernd und Karl-Heinz Ulrich sind Deutschlands letzte Macher. Denn: Ganz Schland scheint sich 2024 in die kollektive Privat-Rezession zu begeben. Sucht die Schuld für seine Scheißstimmung bei anderen. Und macht sich selbst zum leichten Opfer für Jammerprediger und Populisten. Ganz Deutschland? Nein! Die unbeugsamen Ulrich-Brüder alias Amigos krempeln die Ärmel ihrer flamingopinken Alleinunterhalter-Hemden von 1999 hoch. Steigen in ihre schimmelweißen Pailletten-Schuhe von Deichmann. Und nehmen Anlauf. Anlauf auf ihre nächste große Erfolgsgeschichte nach ihrer letzten großen Erfolgsgeschichte. EM-Aus? So what. Hitzewelle? Wayne. Dönerpreise, so unverschämt, dass sie jede Büro-Knoblauchfahne als Basis-Argument für den Erhalt der Kantinen-Schnitzel abgelöst haben? Ja, und? Nicht jammern! Machen! Machen wie die Ulrichs. Den Metal Hammer als Multiplikator brauchen die Brüder schon lange nicht mehr. Noch nicht mal Plattentests.de. Denn auch ihre neue Platte "Stimmen der Nacht" wird wieder die Hitparade erobern wie eine Bagatelle das Sommerloch. Warum also dieser Text? Und keiner über Waschlappen-Indie, der sowieso niemanden interessiert? Weil Liebe siegte.

Fünfzehn Fetenhits haben Amigos geliefert, von denen einer der spartenübliche Hitmix ist. Die Nummer, die bei Andy Borg uraufgeführt werden kann, um "Stimmen der Nacht" in seiner ganzen kapitalen Bandbreite zu präsentieren: vier Minuten Softcore, echte Gefühle. Zudem haben Amigos ihre Zielgruppe erweitert. Erst neulich beglückten sie den ZDF-Fernsehgarten mit beschwingten Paarreimen, barrierefreien Texten und schrittmacherkompatiblen Beats. Sie spielten "SOS im Paradies". Reimten "Dir" auf "mir". Und ließen das Publikum eskalieren, indem es passgenau auf die Eins und Drei mitklatschen durfte. Und als die bestens geölte Promotion-Maschine so richtig in Fahrt kam, da ging ein Videoclip zu "Auch im Porsche fallen Tränen" rund. In ihm zu sehen ist ein Selfmade-Typ, weißes Hemd, weißere Kauleiste und breite Schultern, der mit seinem Sportwagen vor seiner Villa parkt. Ganz alleine ist er. Bernd versucht, zu singen: "Viel Geld kauft keine Liebe / Egal wie reich Du bist." Karl-Heinz gibt eine Terz entfernt von der Tonlage seines Bruders die Zweitstimme, die selbst für unmusikalische Menschen beherrschbar ist. Der Typ in der Karosse weint. Der Manager der Amigos lacht. Denn: Wir können nicht sagen, ob sich auch der junge Christian Lindner zu dieser Amigos-Nummer in den Schlaf geweint hätte. Wir wissen es.

Und die Gefühle? Keiner bespielt sie so gefühlsecht wie Bernd und Karl-Heinz Ulrich. Zugegeben: Als Werbetexter hätten es die Amigos samt ihrer Autoren schwer. Im Seminar für kreatives Schreiben wären sie so lost wie Darmstadt 98 in der Fußball-Bundesliga. Und: Kein Wunder, dass sie von Plattenfirmen über Jahre so manche Körbe kassierten. Denn kein Bild, keine Formulierung und kein Dekolleté ist den Amigos zu abgegriffen, um große Feels in Vierviertel-Geschunkel mit Schlagerobers zu verwandeln. "Es steht in Deinen Augen / Dass Du auf Wolken schwebst", knödeln sie in "Es steht in Deinen Augen" über ihr Lieblingsthema: die ewige Liebe, die wie Feuer brennt, wie auch sonst? "Das mit uns zwei ging so tief / Ich hab' noch Jahre danach nur an Dich gedacht", dramatisieren sie verpasste Einlochchancen aus ihrer Sturm- und Drangzeit. Und legen mit "Stimmen der Nacht" die Trigger für Anziehung im Alter nach: "Du trägst schwarze Schuh / Und ein Cocktailkleid / Mit 'nem Ausschnitt, der / Jeden Blick verzeiht."

Genau das ist der Zauber der Amigos: nur keine Experimente. Viel Grabschfingerspitzengefühl. Und maximales Einfühlvermögen. Im Ernst: Lest Euch die kopierten Pinnwand-Sprüche durch, die Menschen auf Social Media posten, um die Liebe zu ihren Liebsten zu beteuern. Seht Euch den Umsatz der standardisierten Grußkarten an, die zwischen Taufe und Beerdigung alles begleiten, was Zwischenmenschliches zu Zwischenmenschlichem macht. Hört zu, wenn Hannelore G. aus Tettingen-Butzdorf und Erik M. aus Duisburg-Meiderich von ersten Küssen oder von letzten Hämorrhoiden erzählen. Und riecht, wie es wirklich ist, wenn deutsche Paare in ihre Furzkisten steigen. Da sind große Worte fehl am Platz. Da kommt raus, was raus muss. Millionen von Deutschen sollten sich ein Beispiel nehmen. Vielleicht nicht modisch. Oder rhythmisch. Und um unserer Wertungsskala Willen bloß nicht musikalisch. Aber ansonsten: Von den Amigos lernen heißt, die Liebe zu lernen.

(Sven Cadario)