Paris Paloma - Cacophony

Nettwerk / Bertus
VÖ: 30.08.2024
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Alles überall auf einmal

Es dürfte ein exklusiv deutsches Trauma sein, das der Name Paris Paloma bei einer bestimmten Generation in Erinnerung rufen könnte. 1999 schaffte es ein ähnlich klingendes Projekt hierzulande bis auf Platz zwei der Charts und verkaufte seine erste Single dank Stefan Raab so häufig, dass es zum Platinstatus reichte. Wenn man Pech hat, hat man also sofort "Ö la Palöma Blanca" von Ö La Palöma Boys im Kopf. Allein das wäre schon Grund genug, auf eine steile Karriere von Paris Paloma zu hoffen, damit sie sich das Wort zurückerkämpft und im kollektiven Gedächtnis von außen ins eine Ohr eintritt und den unsäglichen "TV Total"-Song aus dem anderen herausbefördert. Das Potenzial dafür hat die Britin auf jeden Fall, auch wenn ihr Debütalbum "Cacophony" in ein Dutzend Richtungen gleichzeitig geht.

"What did I do wrong? Will you tell me?", singt Paris Paloma erst einmal und zeigt sich irritiert, während sie über ihren eigenen Background-Kanon watet. Bis eine Gitarre reinkracht und alles zerreißt: "I was strawberry picking / You were gathering ammunition to use." Bläser, Störgeräusche, ein angedeuteter Drumloop: Der Opener ist extrem aufregend und dann fast überraschend vorbei. Interessiert stellt man die Musik ein bisschen lauter. Doch "Pleaser" entscheidet sich dafür, das Tempo deutlich rauszunehmen und fühlt sich mehr nach aufziehenden Wolken in den Great Plains an als nach Großbritannien. Ein Hall legt sich über alles in dieser Folk-Beschwörung, die in sich geschlossen sehr angenehm erscheint, allerdings auch das erste Mal das einzige große Problem von "Cacophony" aufzeigt. Die vielen ausdrücklich großartigen Songs wollen sich nicht so recht aneinander heften.

Zumindest manchmal gelingt der Anschluss: "His land" wird zu einer cineastischen Ballade mit vorsichtigem Klavier und subtil dramatischen Streichern. Hier ist Paloma dem gotischen Folk-Horror ganz nah, wenn sie ihren besessen wirkenden Mann beschreibt: "Sometimes I catch him with his axe in the shadows." Wer will, kann sich hier an die Stimmung von "Where the wild roses grow" erinnert fühlen, ohne dass es sich um ein Duett handelt. Fast schon verwirrend naiv und tonal komplett konträr geht es von hier in die kleine Niedlichkeit "Drywall", die aber immerhin hintenraus etwas lauter wird und ein paar Schritte vom Mikro weg machen muss, damit Paloma ordentlich aus vollem Hals singen kann, bis versöhnlich warme Bläser das Stück beschließen. Der Gesang klingt hier so klar und nahbar, als hätte ein Algorithmus plötzlich die Playlist falsch zusammengesetzt.

Danach ist der Zeitpunkt für den bisher größten Hit der jungen Sängerin gekommen. "Labour" ist eine feministische Hymne mit stolzen Drums und kraftvollem Gesang über die unbezahlte Care-Arbeit, die oft an Frauen hängenbleibt, und fordert das Patriarchat heraus: "It's not an act of love if you make her / You make me do too much labour / All day, every day, therapist, mother, maid / Nymph, then a virgin, nurse, then a servant." Inhaltlich in eine ähnliche Kerbe, aber musikalisch anders schlägt "Boys, bugs and men", in dem Paloma erwachsene Männer mit kleinen Jungs vergleicht, die Käfern die Beine ausreißen. Dazu erklingt so wunderbar eingängiger Folk-Pop, wie Laura Marling ihn vor 15 Jahren geschrieben hat. Und das alles passiert in der ersten Albumhälfte.

Verlieben kann man sich genauso in das Gitarre pickende "Bones on the beach", wo sich Paloma im Bett liegend vorstellt, wie sie am Strand versteinert – schöne Texte kann sie nämlich auch. Oder in das voluminöse "The warmth", das an Auroras großen Hit "Running with the wolves" erinnert. Und auch in den suchenden Closer "Yeti", in dem Paloma Unterstützung vom amerikanischen Songwriter Old Sea Brigade bekommt, ohne dass der sich dem Stück aufdrängt. Immerhin die zweite Albumhälfte der knappen Stunde von "Cacophony" fühlt sich deutlich kohärenter an als der Beginn. Es ist fast absurd, dass der Gesamteindruck dieses beeindruckenden Erstlings unter seinen vielen unterschiedlichen Ideen leidet. Dass sie in allem gut ist, hat Paris Paloma unter Beweis gestellt. Jetzt muss sie nur noch entscheiden, auf was sie am meisten Lust hat. Hauptsache, es ist kein Feature mit Ö La Palöma Boys.

(Arne Lehrke)

Bei Amazon bestellen / Preis prüfen für CD, Vinyl und Download
Bei JPC bestellen / Preis prüfen für CD und Vinyl

Highlights & Tracklist

Highlights

  • My mind (now)
  • Boys, bugs and men
  • Bones on the beach
  • Yeti

Tracklist

  1. My mind (now)
  2. Pleaser
  3. His land
  4. Drywall
  5. Labour
  6. Boys, bugs and men
  7. Knitting song
  8. As good a reason
  9. Triassic love song
  10. Escape pod
  11. Last woman on Earth
  12. Bones on the beach
  13. Hunter
  14. The warmth
  15. Yeti
Gesamtspielzeit: 56:17 min

Im Forum kommentieren

Hollowman

2024-09-06 15:55:14

Der Schluss der Rezension trifft's sehr gut... ich dachte mir beim Hören auch, die Dame müsste sich mal entscheiden, was sie machen will. Mir ist das Album insgesamt zu lang, einige schöne Songs dabei, aber den einen oder anderen hätte man auch streichen können. Über die Dauer von fast einer Stunde packt es mich nicht genug. Die 7/10 geht für mich unterm Strich klar.

Lichtgestalt

2024-09-02 13:05:06

Tolles Album, macht richtig Spaß.
Auch super produziert, satter Sound.

In meiner bisherigen 2024-Top10.

Armin

2024-08-28 21:04:43- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

"Album der Woche"!

Meinungen?

Hinterlasse uns eine Nachricht, warum Du diesen Post melden möchtest.

Spotify

Threads im Forum