The The - Ensoulment

Cinéola / Ear / Edel
VÖ: 06.09.2024
Unsere Bewertung: 6/10
6/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10
9/10

Einsamkeit und Zuckerguss

Matt Johnson hat noch einen. Das deutete sich schon an, als der The-The-Mastermind 2018 auf "The comeback special"-Tour ging und sie drei Jahre später mit einem Live-Album inklusive neuem Song "We can't stop what's coming" dokumentierte. Gewidmet war dieser Johnsons verstorbenem Bruder Andy Dog, der seine Platten lange mit expressionistischen Artworks versehen hatte. Ein bisher ungesehenes Bild des Künstlers ziert auch das Cover des achten The-The-Longplayers "Ensoulment" – Nachfolger des bereits vor einem schlappen Vierteljahrhundert erschienenen "NakedSelf". Seitdem hat sich viel getan im Vereinigten Königreich, in den Schaltzentralen der Macht und im eigenen Seelenleben. Von jeher Johnsons Lieblingsthemen – besonders eindrücklich umgesetzt auf dem so scharfsinnigen wie sardonischen 1986er-Meisterwerk "Infected".

Mit dem oft bemühten Begriff Post-Punk hatte das alles schon immer wenig zu tun. Eher mit im Kern bluesigem Singer-Songwritertum britischer Prägung, das die depressive Toleranz gegenüber Obrigkeiten und die Schattenseiten der Psyche verhandelt. Und zumindest in England scheint sich in rund 40 Jahren doch nicht so viel geändert zu haben, wenn das preziös betitelte "Some days I drink my coffee by the grave of William Blake" zu lockerem Akustik-Schunkeln "perfidious Albion must fall" fordert und dort ansetzt, wo "Soul mining" 1983 mit der Zeile "I'm just a symptom of the moral decay that's gnawing at the heart of the country" aufhörte. Feine Ironie, dass Johnson, der mehrfach Johnny Marr als Mitmusiker rekrutierte, dabei zuweilen an eine weniger larmoyante Version von Morrissey denken lässt. Merke: Keats and Yeats are on your side while Blake is on his.

Liest sich nicht so schmissig, wie seinerzeit der soulige Stampfer "Slow train to dawn" oder der Indie-Popowackler "The beat(en) generation" klangen? Ist es auch nicht – zu grüblerisch wirkt Johnson ob der Verwüstung in Gesellschaft und Politik, zu wehmütig schwelgt er in Erinnerungen an eine orientierungslose Jugend. Ein ätzendes "Truth stands on the gallows / Lies sit on the throne" zum grollenden Basslauf des perkussiven Openers "Cognitive dissent" schüttelt er dennoch genauso mit Leichtigkeit aus dem Ärmel wie den vollmundigen Drama-Pop von "Life after life" oder "Zen & the art of dating", das genüsslich darauf herumkaut, dass Partnersuche-Apps Menschen noch einsamer machen, als sie schon sind. "Breats are yearning, loins are burning" – der Rest ist Vereinzelung. Immerhin zu einem herrlich sehnsüchtigen Singalong-Groove mit Clavinet-Geknörmel.

Natürlich lässt es sich USA-Skeptiker Johnson auch nicht nehmen, in "Kissing the ring of POTUS" Donald Trump noch einen mitzugeben – auch wenn der Sarkasmus dieses entspannten Post-TripHops vor lauter weiblichem Background-Zuckerguss ins Leere zu laufen droht. Emotional stichhaltiger schmachtet "I want to wake up with you", ein Einblick in die verwirrte Gefühlswelt eines Jungmenschen, ehe sich "Linoleum smooth to the stockinged foot" zu einem albtraumhaften Krankenhausaufenthalt zurückhalluziniert und Shuffle-Beat und Riff-Glühwürmchen "I hope you remember (the things I can't forget)" zur kleinen Swamp-Köstlichkeit machen. Und gerade diese Luftigkeit steht einem virtuosen, aber mitunter arg in sich gekehrten Album gegen Ende prima zu Gesicht – eine Stelle, an der Johnson in Zukunft gerne weitermachen darf. Vielleicht hat er bald ja noch einen.

(Thomas Pilgrim)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Zen & the art of dating
  • Life after life
  • I hope you remember (the things I can't forget)

Tracklist

  1. Cognitive dissident
  2. Some days I drink my coffee by the grave of William Blake
  3. Zen & the art of dating
  4. Kissing the ring of POTUS
  5. Life after life
  6. I want to wake up with you
  7. Down by the frozen river
  8. Risin' above the need
  9. Linoleum smooth to the stockinged foot
  10. Where do we go when we die?
  11. I hope you remember (the things I can't forget)
  12. A rainy day in May
Gesamtspielzeit: 45:19 min

Im Forum kommentieren

Matze

2024-08-29 23:21:54

@ Loketrourak

Das mag sein. Wobei ich mit Israelkritik kein Problem gehabt hätte. Hätte er "ceasefire now" oder "f*ck Netanyahu" oder sowas geteilt, hätte ich damit kein Problem gehabt. Selbst sowas wie "Apartheid" oder "Genocide" hätte ich als zwar falsche aber eben als Meinungsäußerung toleriert.

Dieser Anstecker ist für mich aber auf einer Ebene mit "from the river to the sea" und lässt wenig Interpretationsspielraum, welches Schicksal dem Träger für die jüdische Bevölkerung vorschwebt. Vorausgesetzt, er hat darüber überhaupt nachgedacht.

Egal, zurück zur Musik.

So richtig umgehauen hat mich noch keiner der neuen Songs, am besten fand ich noch Cognitive Dissident. Wenn das insgesamt auf dem Level bleibt, geht die 6/10 schon in Ordnung.

Loketrourak

2024-08-29 21:17:34

Ich glaube, 80% der britischen Musiker, die politisch links/fortschrittlich sich positionieren, sind in der Nahostfrage klar pro Palästinenser positioniert. Eine israelsolidarische Linke gibt es de fakto nicht.

MickHead

2024-08-29 20:59:48

3. Song "Some Days I Drink My Coffee By The Grave Of William Blake"

https://youtu.be/irmURXnkt54?si=1FDuv8U4qXT3NnAq

Lichtgestalt

2024-08-29 08:15:48

@ Matze

Mist, hättest du das nicht für dich behalten können? :-(

Matze

2024-08-28 22:30:35

Bei mir ist sämtliche Vorfreude auf Album und Konzert dahin, seit er diesen Tweet geteilt hat:
https://x.com/soulshenanigans/status/1827822213946310804

Macht Matt Johnson jetzt einen auf Roger Waters? Widerlich. Dummerweise sind beide Konzerte in Deutschland nicht ausverkauft und der Fansale ist voll mit Karten für Köln, so dass ich keine Chance sehe, meine für einen halbwegs vertretbaren Preis loszuwerden.

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