Tom Liwa - Primzahlen aus dem Bardo
EigenvertriebVÖ: 21.07.2024
Kunst kommt von Müssen
Ja, wir wissen, der Kalenderspruch geht eigentlich anders. Doch wir glauben fest, dass beide Varianten stimmen. Denn es gibt auf der einen Seite Künstler, die sich durch technisches Können, Virtuosität und tiefgreifende Beherrschung ihrer Instrumente auszeichnen – und auf der anderen Seite eben auch die Getriebenen, für die Kunst das wichtigste Ventil zum Ablassen ihrer Emotionen, zum Bändigen ihrer Dämonen oder einfach nur zur generellen Selbstentäußerung ist. Gerade letztere scheren sich oft wenig um Konventionen, ziehen konsequent ihren Stiefel durch, machen einfach genau das, was sie für richtig halten. Als Beispiel sei hier mal Neil Young genannt, der dem Business seit Jahrzehnten eine lange Nase dreht, nach klassischen Maßstäben sicherlich kein ganz lupenreiner Gitarrenvirtuose ist – und trotzdem mit seinen auf unvergleichliche Weise rumpelnden Songs und ganz viel Seele die Herzen der Menschen für sich einnimmt. Tom Liwa ist auch so ein Typ. Weil?
Nun, weil er mit "Primzahlen aus dem Bardo" mal eben schlappe 85 Minuten Musik abliefert, die sich mit herkömmlichen Maßstäben kaum sezieren lässt. Ähnlich wie Neil Young blickt Tom Liwa auf diesem Album vornehmlich zurück. Auf sein persönliches Leben, aber auch auf die Personae und Werke, die er in den letzten Jahrzehnten erschaffen hat. Da gibt es – fast schon wie bei Stephen King - eine Vielzahl an Querverweisen auf verwichene Alben und Stücke; ja, man könnte das Album fast schon als persönliche und historische Schnitzeljagd verstehen. Womit wir beim nächsten Bonmot wären: "Kunst ist schön, macht aber auch viel Arbeit." Das gilt für Künstler und Rezipienten gleichermaßen, denn Liwas Sammlung aus 14 Songs ist definitiv nichts, was man nebenher auf dem Weg zur Arbeit, beim Zwiebelschneiden oder beim Anschmiegen an einen Sexualpartner konsumieren kann. Diese Platte ist vielmehr ein vertracktes Labyrinth, auf das man sich vollständig einlassen wollen und können muss. Also: Tür abschließen, Handy weit weg, Füße hoch, guten Drink ins Glas - und dann "gib ihm".
Musikalisch bleibt Liwa seinen Wurzeln weitgehend treu: Hauptzutat ist Folk, als würzende Elemente gibt's etwas Blues, Country und Rock. Die Stücke sind überwiegend getragen und angenehm relaxt-schleppend unterwegs, was wiederum an Neil Young erinnert. Die Akustikgitarre ist Fix- und Ausgangspunkt, als Antagonistin dient das souverän und prägnant eingesetzte Saxofon von Luise Volkmann, dazu gibt's sparsame, aber grundsolide Arbeit an Bass und Schlagzeug. Der Rest ist Geschichte, im wahrsten Sinne des Wortes, denn Liwa erzählt in den folgenden 85 Minuten und zwölf Sekunden im kaum versiegenden Stream of Consciousness aus seinem Leben. Und ja, er erzählt ganz schön viel. Das aber mit einem wunderschönen, intimen Sprechgesang, der abgesehen von der komplett anderen Stimmlage in seiner Intensität zuweilen fast an Bill Callahan erinnert. "Der Arzt sagt, ein gesunder Mensch spürt sein Herz nicht / Doch ich fühl's jeden Tag, mein shabby vintage heart" – so beginnt der Opener "Hermil", der einen trotz sieben Minuten Länge sofort gefangen nimmt, weil hier trotz volldigitaler Produktion eine herrlich altmodische, analog wirkende Musikdecke einhüllt und wärmt.
Und so geht es dann auch in fast allen Stücken weiter: Man wähnt sich ungemein wohlbehütet im Gitarrenspiel, in den Erzählungen, die trotz der teils gigantischen Textmengen – zwei Songs sind länger als 14 Minuten! – nicht anstrengen, wird vom immer wieder einfliegenden Saxofon aber auch ein bisschen gegen den Strich gebürstet – es verhindert wirkungsvoll, dass alles am Ende zu schunkelig und gemütlich wird. Und je länger man diesem wundersamen Erzähler zuhört, umso mehr wird klar: Das hier ist Musik ohne jedes Kalkül, ohne falsche Hintergedanken, ohne Effekthascherei. Hier erzählt vielmehr einer ungeschminkt sein Leben, lässt teilhaben, teils verklausuliert, teils ganz offen. Da geht es nicht nur um Erlebnisse aus Jugend, Reifezeit und Alter, sondern es gibt auch Querverweise zur Werkgenese, Obskura und Kryptisches. Liwa macht sich durchsichtig, lässt einen, wenn man möchte, in sein Wohnzimmer, sein Schlafzimmer, seine Werkstatt blicken. "Primzahlen aus dem Bardo" ist definitiv ein harter Angriff auf unsere durch soziale Medien brutal zusammengeschrumpfte Aufmerksamkeitsspanne. Aber es lohnt sich. Dieses Album kann einen nicht nur über die reguläre Laufzeit komplett aus der Welt beamen – auch noch viele Stunden danach ist man auf positive Weise wie benommen und nachdenklich. Und man wird sogar in den nächsten Tagen noch feststellen, dass immer wieder einzelne Textfetzen im Gehirn aufblitzen. Denn auch das ist ein Merkmal guter Kunst: Dass man sie einfach nicht vergessen kann.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Hermil
- Mari on
- Binnen Meisje
Tracklist
- Hermil
- Jack & Neil
- Malmö 1948
- Van der Beek stomp
- Space Czechovs
- Equi non la
- Bitch E.P.
- Mari on
- Binnen Meisje
- Stelle oscura
- Tommy de Who
- The old Stockholm
- Love dinner
- Van der Beek Toodeloo
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Hierkannmanparken
2024-08-30 13:13:55
Also echt gut, dass es musikalisch auch interessant und ausschweifend ist. So kann man abwechselnd jemandem beim Nachdenken zuhören und selbst unter der musikalischen Begleitung nachdenken.
Bis Stella Obscura finde ich das Album sehr spannend, ab dann wirds doch ein bisschen zu gemütlich. Aber vielleicht nicht verkehrt nach einer Stunde des in sich Gehens.
Hierkannmanparken
2024-08-15 14:24:24
Vorab hatte ich die Befürchtung, die Musik würde in Richtung Mark Kozelek gehen, Überlänge, Sprechgesang, Stream of Consciousness und so.
Stattdessen weckt es sehr angenehme Erinnerungen an The Microphones in 2020. Musikalisch echt vereinnahmend, textlich ja sowieso. Gefällt mir bisher echt gut!
Jochen Reinecke
2024-08-04 19:20:13
Hi Earl Grey (leckerer Tee übrigens, schmeckt auch dem A-Tee-isten): Man kann über Bandcamp auch ganz normal eine CD ordern, so hab ich's auch gemacht.
Earl Grey
2024-08-01 19:42:31
Dankeschön Armin!
Arne L.
2024-08-01 19:33:34
Bei Bandcamp klingen die Sachen wirklich sehr schön, aber das ist mir zu umständlich mit dem Hören, wenn's dauerhaft in die Rotation soll. Schade. :(
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