Johnny Blue Skies - Passage du desir

High Top Mountain / Membran
VÖ: 12.07.2024
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Sehnsucht ohne Namen

In "Killers of the flower moon", Martin Scorseses jüngstem Meisterwerk über die Osage-Morde, spielt Sturgill Simpson den Cowboy, Schmuggler und Auftragskiller Henry Grammer. Der Auftritt in einem so prestigeträchtigen Stück Filmkunst ist nur ein weiteres Beispiel dafür, wie unvorhersehbar der US-Amerikaner seine Identitäten jongliert. In der ersten Hälfte der 2010er-Jahre arbeitete sich Simpson mit alternativem, progressivem Country bis zum Grammy-Gewinn hoch, nur um diese Reputation gleich wieder zu untergraben: Es folgten das von einem Anime begleitete Schrammel-Blues-Album "Sound & fury" sowie klassische Bluegrass-Interpretationen älterer Stücke in Form der zweiteiligen "Cuttin' grass"-Reihe. Da er sich an die selbstauferlegte Regel hält, nur fünf originäre Platten unter dem eigenen Namen zu veröffentlichen, nennt er sich jetzt Johnny Blue Skies. Doch "Passage du desir", das Debüt unter dem neuen Alias, fühlt sich zu keinem Zeitpunkt wie das nächste Rollenspiel oder Experiment an. Stattdessen kehrt Simpson zu seinen Wurzeln zurück, entwickelt diesen Sound mit einigen stilistischen Auswüchsen und einer hörbaren gesanglichen Verbesserung weiter und übertrifft auf diese Weise sogar die Höhen seines bisherigen Referenzwerks "A sailor's guide to Earth".

Im Opener deutet der in Paris lebende Mann seine Wahlheimat gleich zum "Swamp of sadness" um. Ein betrunkener Odysseus irrt durch die Stadt, unschlüssig, den "cycle of solitude and sin" zu durchbrechen oder sich den Sirenengesängen hinzugeben, wobei der Ozean gleichzeitig als Symbol der Freiheit und des Verlorenseins erscheint. Ein Akkordeon bringt europäisches Flair, doch ist der Track musikalisch pure Americana – wie übrigens alle ungeraden Stücke des Albums, was sich entweder dem Zufall oder einem erneuten Ausdruck von Simpsons formaler Strenge zuschreiben lässt. "So put another band-aid on this bullet wound", fordert "Mint tea" über selbstbewussten Gitarrenlicks, die eine Beziehung zu retten versuchen, während der unbeschwerte Twang von "Who I am" samt Mandoline und Pedal-Steel unlösbare Identitätskonflikte verbirgt. "I've lost everything I am, even my name" – ein Glück, dass an den Pforten des Himmels niemand danach fragt. Mit einem tropischen Honky-Tonk-Groove flüchtet sich "Scooter blues" auf eine Insel, wo außer sonnendurchtränktem Vaterschaftsglück nichts eine Rolle spielt. Auch hier hat Johnny unter den Blue Skies allerdings vor allem mit der Vergangenheit zu kämpfen: "Gonna hop on my scooter and go down to the store / When people say, 'Are you him?', I'll say, 'Not anymore.'"

Zu 50 Prozent besteht "Passage du desir" damit schon mal aus hochklassigen Genre-Nummern, doch sind es gerade die anderen vier Songs, die dieses Album so grandios machen. Allen voran das siebenminütige Herzstück "Jupiter's faerie": Simpson erfährt vom Tod einer geliebten Person in einem zärtlichen Piano-Lament, das mit viel Saiten-Schwung in einem Siebziger-Pop-Rock-Refrain explodiert. "Crying tears of love in the light of mourning dawn" wird zum immer intensiveren Kampfschrei, ehe alle Instrumente im Kosmos zerfasern und dem Jenseits die Hand reichen. "Why can't the dream go on forever?", fragt der astreine Phil-Collins-Soul von "If the sun never rises again", "Right kind of dream" wünscht sich hingegen, dass positive Emotionen so tiefe Narben hinterlassen würden wie negative – und bildet diese Sehnsucht mit Streicher-Hooks im Geiste der frühen Arcade Fire und einem stoischen New-Wave-Drive wunderbar ab. Der neunminütige Closer "One for the road" beginnt als in Orchester-Country getauchte Trennungsballade, bevor Akustik-Arpeggios und Mundharmonika den ausschweifenden instrumentalen Schlusspart eröffnen. Simpson heult ein psychedelisches Solo in den Mond, das allen Seelenschmerz der vergangenen 40 Minuten eindrücklicher pointiert, als es jede noch so poetische Zeile könnte. Worte sind, wie Namen, eben nur Schall und Rauch.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Jupiter's faerie
  • Right kind of dream
  • One for the road

Tracklist

  1. Swamp of sadness
  2. If the sun never rises again
  3. Scooter blues
  4. Jupiter's faerie
  5. Who I am
  6. Right kind of dream
  7. Mint tea
  8. One for the road
Gesamtspielzeit: 41:43 min

Im Forum kommentieren

fuzzmyass

2025-03-20 18:13:24

Achja, hier im Forum wird ja oft über das Thema Ticketpreise und Spieldauer diskutiert... in diesem Fall hat man für 51 EUR einen wie beschrieben überragenden 3 Stunden Gig bekommen - besser geht's ja kaum

fuzzmyass

2025-03-20 18:11:15

Es wurde doch vom Veranstalter extra angekündigt, dass ein langes Set ohne Vorbands gespielt wird...
Bei mir waren unglaublich viele Amerikaner im Publikum... Da ich weit vorne so in Reihe 2-4 Stand kann ich nicht beurteilen ob viele früh gegangen sind, aber mein Bereich hat sich definitiv etwas gelichtet in der dritten Stunde...
Also wer sich über 3 Stunden derart furiose Darbietung beschwert, den kann ich irgendwie nicht Ernst nehmen - zumal es keine Vorband gab und pünktlich um 20 Uhr begonnen wurde..
Bin echt froh endlich die Gelegenheit gehabt zu haben ihn live zu sehen, er meinte das sei sein allererster Gig hier in München... Band war absolut killer - was für Musiker!!!
Neue Songs kamen grandios, es gab ein tolles Cover von Purple Rain, paar witzige Ansagen zum offenen Toiletteneingang an der Seite, der ihn wohl etwas irritiert hat :D

berti

2025-03-20 18:02:55

Ach so. Man hält also maximal 2 Stunden geiles Konzert aus. Kann ich nicht gelten lassen. Mit Vorband Umbaupause etc. hätte es ggf auch 3 Stunden gedauert

Deaf

2025-03-20 17:30:17

Bei 3 Stunden erübrigt sich wohl die Frage, warum einige vorher gegangen sind. Schon sehr happig, vor allem wenn man vorher mit 1,5 bis max. 2 Stunden rechnet.

berti

2025-03-20 17:17:52

Habe ich in Hamburg genauso empfunden. Sind bei Dir auch etliche Leute frühzeitig gegangen? Warum nur? Sind das alles Traditionalisten gewesen, die n lupenreines Country-Set erwartet haben? Ich war ob meiner eigenen Begeisterung etwas irritiert....

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