
Alcest - Les chants de l'aurore
Nuclear Blast / Rough TradeVÖ: 21.06.2024
Einfach schön
Genau genommen war Metal schon immer ziemlich eskapistisch veranlagt. Ob nun wie in den Anfangstagen der Ausbruch aus den Konventionen im Vordergrund stand oder aber die Vertonung von Schlachten und Fantasy-Geschichten – womit sich lustigerweise Manowar und Blind Guardian ähnlicher sind als sie vielleicht wahrhaben mögen –, an irgendeiner Stelle kann oft ein Protest- oder Fluchtpotenzial hinein interpretiert werden. Wenn auch manchmal zugegebenermaßen mehrere Ecken erforderlich sind, das nur am Rande. Nun ist die Welt aktuell für so manchen kein allzu schöner Ort, Klimakrise, wachsender Populismus und Hass überall, you name it. Man könnte also meinen, dass sich die Blackgaze-Vorreiter Alcest wahlweise noch stärker auf ihre Black-Metal-Wurzeln beziehen, um eine intrinsische Wut zu kanalisieren, oder aber sich komplett in den Post-Metal-Kokon zurückziehen.
Was für eine Fehleinschätzung. Denn das französische Duo macht auf seinen neuen Album "Les chants de l'aurore" das genaue Gegenteil. Es gibt genug Hass, da draußen ist so viel Schönes, lasst es uns zeigen. Und entdecken. Denn hinter dem relativ spröden Titel des Openers "Komorebi" verbirgt sich sinngemäß der poetische Ausdruck für "Licht, das durch die Blätter der Bäume scheint". Dabei bietet der Song viel mehr als nur mal Luftholen im Wald, ruhige, stimmungsvolle Passagen wechseln sich mit flirrenden Riffs ab, die zwar irgendwo aus dem Black Metal stammen, aber auf jegliche Kälte verzichten, dazwischen scheinen gar poppige Momente durch, während über allem Neiges ätherischer Gesang schwebt. Und selbst wenn Alcest noch nie eine Band waren, die sich über Hooks definiert, frisst sich der Refrain unweigerlich fest.
Das folgende "L'envol" schafft hingegen das Kunststück, just einen kurzen Schritt vor der Kitschgrenze in eine punktgenaue Eskalation abzubiegen, doch es ist "Améthyste", das wie ein Startschuss wirkt. Plötzlich werden die Riffs durch treibenden Post-Metal unterstützt, während Neige zu dezent asiatisch klingenden Harmonien die Arme ausbreitet, damit gegen seine eigenen Schreie anarbeitet und letztlich die Oberhand gewinnt. Einen ähnlichen – und eigentlich verbietet sich der Begriff bei Alcest – Pop-Appeal bietet "Flamme jumelle", welches überhaupt nicht erläutert werden will. Warum auch, wenn man sich hier ganz einfach davon tragen lassen kann? Manchmal liegt die Schönheit eben im Einfachen.
Wie bereits erwähnt, sind Alcest keine Song-Band. Hier ist das Album der Star, hier benötigt die Atmosphäre Raum, sich zu entfalten. Und dann ist da plötzlich "L'enfant de la lune". Siebeneinhalb Minuten, die wie eine Essenz wirken, die alles verdichten, was die Franzosen ausmacht. Das mag nach einer "Wir kippen mal alles rein, was so geht, und rühren dann mal um"-Kakophonie klingen, ist aber letztlich schlicht begeisternd, eine faszinierende Entdeckungsreise. Nur dass Neige und sein Schlagzeuger clevererweise nur die Antwort liefern, die Fragen muss man schon selbst stellen, um ans Ziel zu kommen. Die erste Gelegenheit bietet sich beim Outro "L'adieu", mit dem die Platte langsam ausperlen darf. Der größte Nachteil: Irgendwann müssen dann doch die Kopfhörer wieder abgesetzt werden. Zurück in die kälter gewordene Welt. Schade eigentlich.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Améthyste
- Flamme jumelle
- L'enfant de la lune
Tracklist
- Komorebi
- L'envol
- Améthyste
- Flamme jumelle
- Réminiscence
- L'enfant de la lune
- L'adieu
Im Forum kommentieren
boneless
2025-02-23 17:40:32
Ok, ich muss mittlerweile sämtliche Kritik zurücknehmen und gestehen: ich liebe das Album von vorne bis hinten. Bis auf das verzichtbare und wirklich arg kitschige Interlude Reminiscene entpuppt sich jeder Song als Volltreffer, L'Envol und L'Enfant gehören dazu zum Besten, was Neige in den letzten Jahren geschrieben hat. Dieser Kerl bekommt mich einfach immer, da kann man einfach nichts sagen.
Watchful_Eye
2025-02-13 00:01:41
Ich finde das Album gar nicht unbedingt kitschiger als die anderen. Wäre mir jetzt nicht aufgefallen, wenn du es nicht gesagt hättest.
Er ist sicherlich kein Künstler für Leute, die "Weiterentwicklung" suchen. (:
Vielleicht wollte er ursprünglich mal so jemand sein, aber nachdem "Shelter" eher gefloppt ist, hat er gewissermaßen seinen Schluss draus gezogen und geht seitdem sehr konservativ vor.
Aber vielleicht ist das gar nicht schlecht. Denn er bleibt, wie z.B. Meshuggah, das "Original".
boneless
2025-02-12 22:28:56
Es existieren übrigens zwei Threads zu diesem Album. Könnte man mal zusammenlegen...
Der nahezu schwebende zweite Teil von L'Enfant De La Lune ist der Hammer. Hach, egal wie sehr er mittlerweile dem Kitsch zugewandt ist, Neige hat den Dreh einfach raus, außerweltlich schöne Songs zu schreiben. Oder wie es ein User auf last.fm perfekt benennt:
This band makes me feel like I love something I have never known, I can't quite explain it, but it's a mix of nostalgia and melancholia that somehow is a nice and comforting feeling
boneless
2025-02-11 21:26:53
Hm. Es gibt einen Teil in mir, der dieses Album mag. Klar, als großer Alcest Fan ist es mir fast unmöglich, das schlecht zu finden. Neige kann noch große Melodien schreiben, aber er ertränkt sie leider zu oft im recht kitschigen Gesamtbild. Alcest hatten diese Tendenz schon immer, haben aber stets die Balance gehalten. Mit diesem Album überschreiten sie die Grenze erstmal doch in vielen Stellen und ich habe ein wenig die Befürchtung, dass der nächste Longplayer richtig cheesy werden könnte und es einem dann selbst als eingefleischter Fan sehr schwer fallen wird, das noch rechtfertigen zu können, vor allem vor sich selbst.
Kamm
2024-07-26 10:19:45
Schließe mich hier an, der erste Song ist wirklich kein Highlight.
Die Melodie ohne starken melodischen Kern und ohne interessante harmonische Auflösungen, die das aufwerten könnten; Keyboards und Gitarren dazu oft unisono, und der Gesang paraphrasiert diese oft nur.
Danach wird es schon besser, es kommen wieder mehr Disharmonien zur Kontrastierung mit rein und Neige zeigt, dass er eigentlich richtig tolle Riffs schreiben kann.
Ich bin noch nicht durch mit dem Album, aber insgesamt würde ich schon sagen, dass er von den zwingenden Stücken der ersten Alben und von Amesoeurs inzwischen doch recht weit entfernt ist. Ihm gehen die Ideen aus, fürchte ich. Ist aber wahrscheinlich nicht seine Schuld; das Genre hat möglicherweise die meisten starken Melodien einfach schon verballert. :D
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