Various Artists - Der Text ist meine Party – Die Hamburger Schule 1989-2000

Tapete / Indigo
VÖ: 07.06.2024
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Sie wollen uns erzählen

"Hamburger Schule" ist als Etikett ungefähr so aussagekräftig wie "Neue Deutsche Welle". Zu verschieden sind die Künstler, die in den späten Achtzigern und frühen Neunzigern des letzten Jahrhunderts mehr oder minder zufällig alle zur selben Zeit plötzlich deutschsprachige Musik machten, die nicht scheiße war. Doch schon der Zusatz "des letzten Jahrhunderts" zeigt, dass der Prozess der Historifizierung eingesetzt hat. Man könnte auch von "Kanonisierung" sprechen, aber das macht es nicht besser. Die TV-Autorin Natascha Geier hat in diesem Zusammenhang eine Dokumentation produziert. "Der Text ist meine Party" lautet der Titel, was gleichzeitig Zitat aus einem Song der Band Kolossale Jugend und programmatische Devise ist.

Wenn es einen Faktor gibt, der alle Interpreten der "Hamburger Schule" eint, dann der, dass die Texte tatsächlich eine Hauptrolle spielten. Dementsprechend schnell kamen dann auch die Germanisten aus ihren Löchern gekrochen und würgten Begriffe wie "Diskurspop" hervor. Was immer auch das sei. Aber gut, Diskurs ist natürlich ein tolles Wort. So wie Zug. Man kann es benutzen, ohne genau mitteilen zu müssen, was man meint. Hier liegt auch der Hund begraben: Wie Tocotronic dereinst feststellten, eignet sich die deutsche Sprache nicht dazu, über Sex zu singen. Dafür kann man Sachen wie "Ein Determinativkompositum ist eine Zusammensetzung aus zwei Substantiven, bei der das erste Glied das zweite näher bestimmt" sagen und da kommt immerhin Glied drin vor.

Dem Deutschen neue Lyrik abzuringen, ist kein leichtes Unterfangen. Dass dabei teilweise auch verbale Onanie herauskommt, kann unter "B" wie Blumfeld verbucht werden. Das war jetzt boshafter als nötig, aber fängt durchaus das Kernproblem der "Hamburger Schule" ein: Zwei Strömungen verliefen parallel, ehe sie sich gegen Ende der Neunziger voneinander trennten. Auf der einen Seite gab es jene, die mit außergewöhnlicher Beobachtungsgabe das Banale des Alltags politisch machten. Hier muss vor allem Kristof Schreuf erwähnt werden, dessen Texte nichts von ihrer Strahlkraft eingebüßt haben. Doch auch Bands wie Die Sterne und Huah! gelang das Kunststück, präzise zu sein, ohne dabei wie Oberlehrer zu wirken. Ebenfalls unverzichtbar ist diesbezüglich Bernd Begemann, der schon immer ein bisschen abseits des Geschehens sein eigenes Ding machte. Dass er die Doku gelinde gesagt nicht ganz so toll findet, gehört hier nicht hin.

Doch was ist mit der anderen Seite? Der Vorwurf des Pseudo-Intellektuellen gehört zum, Achtung, Diskurs wie der Penny auf die Reeperbahn. Letztlich ist es aber auch müßig, nach all den Jahren noch einmal dieses Fass aufzumachen. Nur weil ein Text vielleicht etwas kryptischer daherkommt, muss er nicht gleich Quatsch sein. Kante und Sport zeigten, dass es sich auch im Ungefähren laut und ungern leben lässt. Zwischen den Stühlen gibt es nur Stehplätze und die sind sowieso besser, wenn man es ernst meint. Vielleicht ist dies auch der größte Verdienst der "Hamburger Schule": Die Bands jener Zeit zeigten, dass man ernstgemeinte deutschsprachige Musik machen kann, selbst wenn man sich Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs nennt. Gerade dann.

Das Etikett hat so oder so Risse. Natürlich müssen Tocotronic auf so einem Sampler vertreten sein, aber angesichts all der Metamorphosen, die die Gruppe seit den schrammeligen Anfangstagen durchlaufen hat, wirkt ein Song wie "Die Welt kann mich nicht mehr verstehen" wie ein Artefakt. Die Nostalgie, die mit der Historifizierung popkultureller Phänomene einhergeht, birgt die Gefahr der Romantisierung. Einfacher gesagt: Nur, weil es jetzt eine gebührenfinanzierte Dokumentation über die "Hamburger Schule" gibt, ist diese nicht automatisch staatstragend. "Alles, was ich will, ist nichts mit euch zu tun haben", schrie Dirk von Lowtzow damals. Die Verhältnisse bestehen auf Unterwerfung. Den Rest übernimmt die Zeit.

(Christopher Sennfelder)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Party (Kolossale Jugend)
  • Der Krieg-Song (Huah!)
  • Von Haus aus allein (Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs)
  • Die Summe der einzelnen Teile (Kante)

Tracklist

  1. Party (Kolossale Jugend)
  2. Kind und Kegel (We Smile)
  3. Hitler - menschlich gesehen (Bernd Begemann)
  4. Kommt alle zugleich nach D (Cpt. Kirk &.)
  5. Lauf los (Die Braut haut ins Auge)
  6. Schlechte Laune (Die Fünf Freunde)
  7. Alles oder niemand (Die Sterne)
  8. Ein Idiot mehr (Die Regierung)
  9. Die Bürger (Die Goldenen Zitronen & Easy Business & IQ)
  10. 2 oder 3 Dinge, die ich von dir weiß (Blumfeld)
  11. Ich fürchte fast es ist mir egal (Concord)
  12. Der Krieg-Song (Huah!)
  13. Die Welt kann mich nicht mehr verstehen (Tocotronic)
  14. Sie sagt (Stella)
  15. Von Haus aus allein (Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs)
  16. Die Stadt im Sommer (JaKönigJa)
  17. Du und deine Welt (Sport)
  18. Die Summe der einzelnen Teile (Kante)
Gesamtspielzeit: 54:19 min

Im Forum kommentieren

jo

2024-06-21 12:54:51

Für Fehler in der Datenbank gibt es nen eigenen Thread.

Rochen

2024-06-21 01:19:26

Zur Rezension: "Der Verdienst" bedeutet etwas anderes als "das Verdienst".

Michael

2024-06-20 23:55:20

Sehr guter Zusammenschnitt und daher ein gelungener Sampler. Und auch eine wirklich tolle Rezension, finde ich!

Loketrourak

2024-06-20 09:41:18

Die Auswahl der Songs auf der Platte - und das entsprechende Buch - ist aber sehr OK.

Sloppy-Ray Hasselhoff

2024-06-20 08:34:25

Das Neue ist meist das vergessene Alte. Kindliches Erstaunen angesichts der schlichten Schönheit von Musik. Die Spex war wichtig!

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Referenzen

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