Bon Jovi - Forever

Island / Universal
VÖ: 07.06.2024
Unsere Bewertung: 4/10
4/10
Eure Ø-Bewertung: 5/10
5/10

Insolvenzverschleppung in der Ich-AG

"I ain't gonna live forever", sang Jon Bon Jovi in "It's my life". Vor 24 Jahren war die Vergänglichkeit noch eingepreist. Nun hat er die Sechzig überschritten, die Band feiert dieses Jahr 40-jähriges Jubiläum. Und da blickt er einmal zurück, was bleibt eigentlich von einem Leben auf der Bühne? Hat man alles erreicht? Diese Fragen sind legitim. Jon Bon Jovi hat sich aber dazu entschieden, alle selbst zu beantworten und die eigene Wichtigkeit zu vertonen; frei nach Elvis (mit dem er sich auch vergleicht): "50 million fans can't be wrong." So heißt das neue Album dann auch konsequent "Forever". Der Opener "Legendary" enthält so viel "me", "my" und "I", dass kein Zweifel aufkommen soll, wer hier die Legende ist. Dabei ist das Straucheln der Band, das mit diesem Werk kein Ende findet, schon von Beginn an angelegt. Durch die Idee, eine Gruppe von Freunden zusammenzubringen, sie aber nach dem Frontmann zu benennen und so alle anderen Mitglieder zu degradieren. Dieser Konflikt wird wohl nie aufgelöst, und er wird schlimmer.

Das kann man erkennen, wenn man die ersten Minuten der neuen, parallel zum Album erscheinenden Doku "Thank you – goodnight" anschaut. Es geht ausschließlich um Jon Bon Jovi. David Bryan beispielsweise, mit dem er schon als 15-Jähriger zusammenspielte, betitelt er als "seinen" Keyboarder, Bon Jovi ist "seine" Band. "Er" könne die Halle, in der er gerade in New Jersey steht und ein Interview gibt, zehn Abende hintereinander ausverkaufen, die Band wird nicht erwähnt. Bezahlte er diese Einstellung mit dem Abschied von Richie Sambora 2013? Gab es im Vorfeld von "Forever" kurz Hoffnung auf eine Rückkehr, gab der Gitarrist zu Protokoll, wenn er etwas bereue, dann dass er nicht schon ein paar Alben früher ausgestiegen ist. Der zweite Tiefschlag war Jons Erkrankung an den Stimmbändern 2016, die er bis heute trotz Operation nicht ganz überwunden hat. Die Mathecracks unter den Leser*innen müssen jetzt ganz stark sein. In der Morning Show des britischen Fernsehens ließ Jon Bon Jovi sich aus, er wisse, dass er stimmlich nur noch 80 % bringe, aber er wolle so hart arbeiten, dass er innerhalb dieses Rahmens wieder 100 % auf der Tour schaffe.

Auf dem Album sind die Einschränkungen nur in den ruhigen Passagen zu hören. Mit einem sehr leisen, gesprochenen "Legendary" zu beginnen, ist daher gewagt. Selbst der wohlmeinendste Fan bemerkt sofort, die Stimme klingt brüchiger und dünner. Legt die Band kräftiger los, bekommt Jon Bon Jovis Stimme wieder den bekannten und berühmten Druck. Dies lässt er in Songs raus, die erschreckend aus dem eigenen Back-Katalog kopiert sind: "Living proof" ist dem oben genannten Talkbox-Hit "It's my life" entliehen. "The people's house" erinnert erschreckend an "This house is not for sale" auf den Rhythmus von "Livin' on a prayer". Trotzdem stellt sich so das vertraute Gefühl ein, die Truppe kann es noch. Doch originär neue Songs stammen nun ausschließlich aus der Feder des Häuptlings, und es ist zu spüren, dass der korrigierende und inspirierende Gegenpart eines Richie Sambora fehlt. "We make it look easy" oder "Waves" könnten so auch auf einer neuen Scheibe von Shania Twain oder Bryan Adams vorkommen. Sambora-Nachfolger Phil X gelingt es einfach nicht, den Songs den nötigen Staub zu verpassen, damit die New-Jersey-Cowboyhaftigkeit der Band durchscheint – diese war legendary und wird forever im Gedächtnis bleiben. Stattdessen finden sich Stücke, die so banal klingen, dass Bon Jovi hier noch öfter als auf den Vorgängeralben die Grenze zum Schlager überschreiten. "Walls of Jericho" und "Living in paradise" tönen, zumindest in europäischen Ohren, wie eine christliche Worship-Band beim flippigen Samstagabend-Rock-Gottesdienst – Switchfoot lassen grüßen. Eine gewisse Schwülstigkeit war Bon Jovi schon immer eigen und wird mit "I wrote you a song" und "Kiss the bride" auch bedient. "Hallow man" ist sogar ein richtig gutes Stück, wenn die ständige Selbstbeweihräucherung hier nicht auch noch verbaut wäre.

Nach der vollen Portion "Forever" sitzt man ratlos vor der Anlage und möchte eine Bon-Jovi-Scheibe aus dem letzten Jahrtausend hinterherschieben, um sich zu erinnern, wie groß diese Band einmal war. Und diese Größe lässt sich nur noch rückblickend betrachten und nicht, wie Jon Bon Jovi es versucht, nach vorn erzählen. Es ist bewundernswert, dass Bon Jovi nach allen Rückschlägen der vergangenen Jahre immer noch da sind, Konzerte spielen und Alben veröffentlichen. Schätzt man den Arbeitsethos des Bandleaders richtig ein, wird das auch weitergehen, bis entweder niemand mehr kommt oder Jon Bon Jovi es nicht mehr auf die Bühne schafft. Da hält er es mit seinem Freund Bruce Springsteen: "No surrender". In der Dokumentation ist zu sehen, welchen Aufwand Jon Bon Jovi mittlerweile betreiben muss, um die Maschine am Laufen zu halten. Etwas, das die Band früher neben der ganzen Feierei aus dem Handgelenk geschüttelt hat. Doch was möchte uns Jon Bon Jovi überhaupt noch erzählen, außer in einem letzten Aufbäumen die Deutungshoheit über das eigene Gesamtwerk zu zelebrieren?

(Stephan Dublasky)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Living proof
  • The people's house
  • Living in paradise
  • Hollow man

Tracklist

  1. Legendary
  2. We made it look easy
  3. Living proof
  4. Waves
  5. Seeds
  6. Kiss the bride
  7. The people's house
  8. Walls of Jericho
  9. I wrote you a song
  10. Living in paradise
  11. My first guitar
  12. Hollow man
Gesamtspielzeit: 48:41 min

Im Forum kommentieren

nörtz

2024-06-15 14:46:40

Where we once were divided, now we stand united. We stand as one, undivided. Bon Jovi forever!

eric

2024-06-12 09:28:34

Können wir bitte mal endlich dran denken, für Obracs Bon-Jovi-Ticket zu sammeln!?

Socko

2024-06-07 23:41:30

Keep the faith, das ganze Album, war aber echt gut. Hab ich letztes Jahr mal wieder reingehört, hat nix eingebüßt. Den Rest fand ich immer egal und irgendwann ziemlich mies.
Naja, bed of roses war auch schon damals Müll. Aber solche Perlen wie dry county will ich nicht missen.

Ph06

2024-06-07 19:09:18

Ich kenne Jon leider persönlich und er ist genauso narzisstisch, wie er hier dargestellt wird.
Musikalisch konnte auch ein Jason Isbell wenig retten. Viel Retorte - textlich wie musikalisch - und schlechte Soli.

Aber hey: dafür erzählt er immer, dass er mit McCartney befreundet ist...

Predrag Pavlovic

2024-06-06 23:17:20

Ganz tolles Album! Die Tatsache, dass Jon Bon Jovi (mit seiner Band) immer noch die Inspiration und Motivation findet, neue Songs für uns Fans zu schreiben, damit wir immer wieder neues Material (mit hoher textlicher als auch instrumentaler Qualität) von ihm bekommen ist bemerkenswert. Positiv ist ausserdem noch zu bewerten, dass er mit seiner Operation "Kopf und Kragen" riskiert, um uns weiterhin mit seinem Gesang zu erfreuen. Bleibe gespannt, ob es doch noch eine Tour in Europa geben wird. Der Mix aus ruhigen und rockigeren Liedern ist durchaus da.
Bemängeln muss man leider, dass Phil X leider seinen eigenen Touch mit brachialen Solos nicht einbauen durfte/konnte. Insider wissen, dass er eigentlich einiges auf dem Kasten hat. Ansonsten, seid nicht immer so dünnhäutig und pessimistisch. Er hätte längst in den Ruhestand gehen können, erfreut aber Fans wie mich mit weiteren tollen einzigartigen Songs, die diesen typischen Bon Jovi Stil der vergangenen Jahrzehnte aufweisen.
Lebe Lang und für immer Jon Bon Jovi

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