Shellac - To all trains

Touch & Go / Rough Trade
VÖ: 17.05.2024
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Ikone in allen Zügen

Man kann sich schwerlich vorstellen, dass der Eigenbrötler Steve Albini gerne sentimentale Nachrufe über sich gelesen hätte. Doch die schiere Menge an Menschen, die seit seinem plötzlichen Tod Anfang Mai an Begegnungen erinnern und bewegende Anekdoten aus gemeinsamen Aufnahmesessions schildern, lassen ein wehmütiges Lächeln nach dem anderen übers Gesicht huschen. Sie führen vor Augen, dass es in der Indie-Welt der vergangenen vier Jahrzehnte vielleicht niemand anderen gibt, der einen ähnlichen Legendenstatus für sich beanspruchen könnte. Als Bandleader von Big Black machte er in den 1980er-Jahren die Gitarren zu kreischenden Industriewerkzeugen, die eine heuchlerische Gesellschaft herausforderten, bei Shellac dekonstruierte er lustvoll abgeschmackte Rock-Tropen des Mainstreams.

Wer jemals auf der Suche nach neuer Musik die Liste der von Albini produzierten Alben studiert hat und dabei auf eine unerschöpfliche Fundgrube gestoßen ist, weiß sowieso, wovon die Rede ist. Ästhetische Kompromisslosigkeit hatte in ihm einen Botschafter, dessen Integrität ihresgleichen sucht, einen Soundtüftler, der mit sinnlich-brachialen Gitarren und trockenen Drums stets die unmittelbare Intimität guter Live-Konzerte erzeugt hat – das galt für lauten Rock von Pixies, Slint, The Breeders oder Mogwai genau so wie für Singer-Songwriter wie PJ Harvey, Joanna Newsom oder Jason Molina. Legendär sein unverbrüchlicher Ethos, keine branchenüblichen Tantiemen anzunehmen – auch dann nicht, wenn er mal mit kommerziell erfolgreichen Sphären in Berührung kam. Kurt Cobain gewann ihn gegen den Label-Widerstand und auf dem Zenith von Nirvana für "In utero", Molina widmete ihm den "Steve Albini Blues", um ihn überhaupt erst zur Kollaboration zu bewegen. Den nicht wenigen Kontroversen seiner Karriere, die ihm mitunter den Ruf eines Misanthropen und Zynikers einbrachten, begegnete Albini zuletzt vermehrt mit Selbstkorrektur und -kritik – auch das Zeichen eines nie rastenden Geistes.

Vor dem Hintergrund seines Todes blickt man anders auf das Cover von "To all trains". Eine dunkle Photographie aus dem Warteraum der Chicagoer Union Station verpackt die zehn Songs, deutet als ominöses Symbol die nächste Reise an. Zäumt man das Pferd vollends von hinten auf, springt der letzte Song ins Auge: "I don't fear hell", ein knüppelharter Titel im Angesicht der Geschehnisse. "Something something when this is over / I'll leap in my grave like the arms of a lover / If there's a heaven, I hope they're having fun / Cause if there's a hell, I’m gonna know everyone." In gleichen Teilen humorvoll wie nachdenklich reflektiert Albini die eigene Sterblichkeit, am Ende klingt es, als schmölze seine Gitarre in den Verstärker. Fakt ist aber natürlich, dass "To all trains" – über mehrere Jahre entstanden – in seiner knackig-krachenden halben Stunde viel häufiger vor Vitalität strotzt als Memento mori zu sein.

Schon der Opener "WSOD" eröffnet mit gewohnt minimalistischem Math-Rock-Riff, vereinigt dieses dann mit Bob Westons Bass und Todd Trainers Schlagzeug zum packenden Groove. Albinis Sprechgesang leitet über in ein fettes Stoner-Rock-Outro, das eher aus der Blechwüste denn aus Palm Springs zu entspringen scheint. Textlich seziert Albini weiterhin erbarmungslos die scheinheiligen Umtriebe der (Musik-)Welt: "Girl from outside" amüsiert sich sarkastisch über einen Büroausflug in den Karaoke-Schuppen, während ein bitterböses Riff droht; "Chick New Wave" entblößt mit zwei Akkorden und aberwitzig synkopiertem Schlagzeug (ohnehin, dieser Todd Trainer!) die Marketing-Strategien und Trends der Musikindustrie. Das metafiktionale "How I wrote how I wrote Elastic man (Cock & bull)" begrüßt mit der potentiellen Textzeile des Jahres: "Before we start, I must explain / The title once was 'Sauerkraut'."

Hier endet das Spektrum freilich nicht, die kompakten Songlängen laden zu ordentlich Abwechslung ein. Während "Days are dogs" beinahe straighten Indie-Rock mit augenzwinkernden Nazareth-Verweis im Intro präsentiert, dann zu einer beschwingten Minutemen-Nummer mutiert, öffnet der brutal fragmentierte Sludge von "Wednesday" unter Albinis Monolog die tiefsten Abgründe des Albums. Auch die sanfteren, verbindlichen Momente hinter dem Sarkasmus kommen zur Geltung: "Scrappers" gerät zur seltsam bewegenden Vater-Sohn-Geschichte, bewundert die in der Peripherie der Gesellschaft arbeitenden Schrottsammler, ein Mantra inklusive, das zu abgehackt daherkommt, um die Fäuste zu recken: "We'll be pirates". Und "Scabby the rat" bekundet eingängig und eigenwillig Solidarität mit dem Gewerkschaftskampf – hinter Albinis Anklagen wohnt eben häufig auch der positive Gegenentwurf. Sich selbst nicht so ernst zu nehmen wie den Schaffensprozess, lautete ohnehin eine seiner wesentlichsten Prämissen. Kürzlich gab er in einem Interview zu Protokoll, nie feste Ziele und Ambitionen gehabt zu haben, sondern einfach konstant in Vorgänge involviert gewesen zu sein. Schlichte Verwertungslogik lag ihm ohnehin fern. "To all trains" demonstriert in allen Zügen, wie lebendig dieser Gedanke bleiben sollte.

(Viktor Fritzenkötter)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Chick New Wave
  • Wednesday
  • Scabby the rat
  • I don't fear hell

Tracklist

  1. WSOD
  2. Girl from outside
  3. Chick New Wave
  4. Tattoos
  5. Wednesday
  6. Scrappers
  7. Days are dogs
  8. How I wrote how I wrote Elastic man (Cock & bull)
  9. Scabby the rat
  10. I don't fear hell
Gesamtspielzeit: 28:08 min

Im Forum kommentieren

MopedTobias (Marvin)

2024-06-02 21:18:14

Nach Chelsea Wolfe wohl mein Album des Jahres bisher. Was eine Power.

Herr

2024-05-29 21:24:38

Absolut treffend!
Sehr schöne Abhandlung; Lob an den Rezensenten.
Und wie oben schon geäußert von vielen… Shellac wie es Albini gebührt.

Armin

2024-05-29 21:21:54- Newsbeitrag

Frisch rezensiert. "Album der Woche"!

Meinungen?

Hierkannmanparken

2024-05-23 16:33:08

Scabby the rat
Gets the whole room pregnant
Scabby the rat
POW!... you're pregnant

:D

Herr

2024-05-23 14:14:01

Gerade jetzt, wo das Album absolut grandios wurde, wie ich finde, in Übereinstimmung mit dem geschätzten Jochen Reinecke, ist das ja alles furchtbar. Pitchfork lobte auch.

Wie tragisch kann das eigentlich sein. Unfassbar.

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