
Jessica Pratt - Here in the pitch
City Slang / Rough TradeVÖ: 03.05.2024
Goldene Schatten
Jessica Pratt ist eine Meisterin des scheinbaren Widerspruchs. Große Klangpanoramen, die an den Ozean und Kalifornien denken lassen, wollte sie auf ihrem vierten Album auffahren – nennt dieses aber "Here in the pitch" und hüllt sich auf dem Coverbild in tiefstes Pechschwarz. Die ganze Essenz von Pratts Musik steckt in diesem Spannungsfeld, die Aura einer goldenen Hollywood-Nostalgie, in deren Flüchtigkeit der Sunset Boulevard seine Asphaltrisse nicht mehr verbergen kann. Mit ihren vorigen Werken hat sich die US-Amerikanerin bereits als distinktive Songwriterin aus dem dichten Wald namens Folk hervorgetan, nebelte mit einer außerweltlichen Stimme und kaum berührten Saiten wundersame Eigensinnigkeiten aus dem Lautsprecher. "Here in the pitch" behält diesen Kern bei, umhüllt ihn allerdings mit Sechziger-Studio-Magie im Geiste Scott Walkers oder der Beach Boys: Zwielichtige Taschen-Orchester transportieren Pratts Melodien in Richtung greifbarerer Pop, ohne deren spezielle mysteriöse Intimität anzukratzen. So hört es sich an, wenn eine Künstlerin ihr immer schon vorhandenes Potenzial zur Meisterklasse ausformuliert und auf diese Weise ihr bestes Album erschafft.
Was zu der raumfüllenden Präsenz entscheidend beiträgt, ist der ungewohnte Einsatz von Drums und Percussion. Ein mächtiger Beat kündigt gleich den Opener "Life is" an, ehe er sich mit Orgelflächen und Stakkato-Streichern zu einer klassischen Phil-Spector-Soundwand formiert. "The chances of a lifetime might be hiding their tricks up my sleeve", singt Pratt und findet unbewusst ein passendes Sprachbild für die federleichte Wucht, die sie hier aus dem Ärmel schüttelt. "Better hate" ist kaum weniger großartig, führt seine Sixties-Girlgroup-Melodie mysteriöse Windungen entlang, ohne die Hooks unnötig groß aufzuziehen, und erdet sich selbst mit einem Bariton-Saxofon. Auch in "Get your head out" scheint die Bossa-Nova-Sonne auf vokale Geheimgänge unter dem Sand, während die Erzählerin die Unmöglichkeit des Loslassens in einfache Worte verpackt: "I keep comin' back to what I left behind." Dazwischen saugt die Akustische von "World on a string" alle anderen Instrumente aus der Umgebung, nur um sie triumphal wieder auszuspucken. "I want to be the sunlight of the century" – ein Wunsch, der trotz der musikalischen Vergangenheitsbezüge auf jedes mögliche Jahrhundert verweisen könnte, schließlich klingt "Here in the pitch" völlig von Raum und Zeit gelöst.
Die zweite Hälfte des Albums reduziert die Arrangements und macht die Traumtexturen damit noch freiförmiger. "A gesture left in summer's mind", pointiert es "By hook or by crook" kunstvoll und unterläuft seine Strandbar-Atmosphäre mit plötzlichen Drones. Mit erneut aufgespannten Orgeln und zum Beat verarbeiteten Tropfgeräuschen verzerrt "Nowhere it was" die Schatten noch stärker, doch "Empires never know" bündelt die surrealen Ausläufer zum emotionalen Höhepunkt. "Get yourself onto God, my love", fordert Pratt und meint sicher den spirituellen Sog, den das wie aus einer Zwischenwelt empfangene Piano hier gemeinsam mit Jazz-Bläser-Akzenten und gespenstischen Vocal-Modulationen erzeugt. Es passt zu dieser außergewöhnlichen Platte, dass ausgerechnet ihr naivster, hoffnungsvollster, in seiner Klarheit schönster Moment den Schlusspunkt setzt. In einer mantraartigen Tasten- und Saiten-Hypnose schwebt "The last year" Richtung Horizont, die absolute Offenheit trug dieser Closer von Beginn an als Motto: "I think it's gonna be fine / I think we're gonna be together / And the storyline goes forever." Worte, die sich alle zu Herzen nehmen sollten, denen Pratts Werk mal wieder zu kurz ausgefallen ist: Ein Album wie "Here in the pitch" kann man auch einfach endlos weiterlaufen lassen.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Life is
- Better hate
- Empires never know
- The last year
Tracklist
- Life is
- Better hate
- World on a string
- Get your head out
- By hook or by crook
- Nowhere it was
- Empires never know
- Glances
- The last year
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Unangemeldeter
2024-11-27 11:04:12
Noch ein paar Worte zu Jessica Pratt vorgestern im schönen Columbia Theater in Berlin: ich hab mich ja so drauf gefreut sie endlich live zu sehen, Quiet Signs ist im Lauf der Zeit zu einem meiner unverzichtbaren Insel-Alben geworden.
Dann erstmal ein Schreck: am Merch-Stand hängt ein Schild, dass Jessica wegen Stimmproblemen nach der Show zwar für Fotos und Unterschriften zur Verfügung steht, aber nicht sprechen wird. Wir waren dann gespannt wie und ob sie überhaupt singen wird - dabei sind Stimmprobleme nun ja auch störend.
Zuerst gab's mit Harmony Index noch die One-Woman-Vorband der Gitarristin&Backgroundsängerin Nico aus Jessicas Band. Fing erst ziemlich furchtbar an, hat sich dann mit Wechsel von Keyboard zu Gitarre mit Laptop-Begleitung aber gesteigert. Ziemlicher Stilmix zwischen Softporno, Folk und 80ern, es klang als fehlte da noch ein wenig die künstlerische Vision. 2, 3 sehr schöne Stücke waren aber dabei.
Jessica dann mit voller Bandbesetzung mit Percussionisten, Keyboarder, eben Nico und Klarinettisten am Start - und es war großartig. Trotz ausverkauftem Haus, was ja gerne auch mal eng und ungemütlich wird, sehr intime Stimmung und absolut andächtige Stimmung. Keiner hat reingelabert, die Bar war leise, es war toll. Die Stimmprobleme hat man Jessica zwar ein wenig angemerkt, aber hauptsächlich am Husten und Trinken zwischen den Songs und dass sie manche der hohen Töne auch mal Nico überlassen hat. Aber was für eine einzigartige Stimme sie einfach hat, eine absolut großartige Sängerin. Manche der Lieder waren behutsam auf Bandsound umarrangiert und vereinzelt auch mal erweitert, was immer toll gelungen ist. Live trat der Sixties-Swing der neuen Platte noch deutlicher hervor, es hat stellenweise auch einfach richtig gegroovt. Jessica scheint da schon auch bewusst reinzugehen, ihr Bandshirt trug hinten die Aufschrift "Walker? Bacharach? Wilson?" - ganz schön cocky.
Publikum übrigens überraschend jung und hip, habe das deutlich durchmischter erwartet.
Absolute Empfehlung von meiner Seite, ich werde bei der nächsten Tour auf jeden Fall auch wieder am Start sein.
parnell17
2024-07-23 23:18:02
Nach wie vor mein Album des Jahres, bin diesen Songs völlig verfallen.
Lucas mit K
2024-07-19 13:00:30
Wieder ein tolles Album von ihr. Vielleicht ihr bestes bisher.
zolk
2024-05-14 09:18:57
Ich kannte sie vorher nicht, dank plattentests.de jetzt aber doch. Sehr angenehm zu hören bis jetzt...
Unangemeldeter
2024-05-13 22:56:17
Danke für die super Rezension, toll geschrieben! Bei der Wertung lande ich wohl einen guten Punkt weiter oben, mich hat das Album wieder voll erwischt und ich höre grade kaum was anderes.
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Referenzen
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