UB40 - UB45

SRG / Virgin / Universal
VÖ: 19.04.2024
Unsere Bewertung: 5/10
5/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10
8/10

Music for the masses

Fast alle Kinder der 80er-Jahre verfügen über einen universellen Kanon an synästhetischen Erinnerungen. Eine geht so: Auf einer sogenannten Party sitzen sämtliche Anwesenden auf dem Fußboden. Es wird – je nach Altersstufe – aromatisierter Tee (Wildkirsche) oder billiger Rotwein (Le Filou Rouge, gerne auch Viala) gereicht. Irgendwo glimmt ein Räucherstäbchen, möglicherweise geht ein windschief gedrehter Joint herum – und auf dem Plattenteller rotiert knacksend der ölige Superhit "Red red wine" von UB40, während hier geknutscht, da gedöst und dort sanft mit dem Kopf gewippt wird. Ja, so war det damals.

Die 1978 gegründete Band UB40 fiel immer durch alle Raster – oder sollte man hier "Rastas" sagen? Von echten Reggae-, Roots- und Dub-Fans aufgrund niedriger kompositorischer Flughöhe nie so richtig für voll genommen, gelang es UB40 jedoch, streng am Reißbrett Popsongs mit Reggae-Anleihen zu konstruieren, die um die Welt gingen. Auf der Habenseite stehen 100 Millionen verkaufte Alben, 50 UK-Top-40-Singles und 10 UK-Top-Ten-Alben. Umso erstaunlicher, dass man trotzdem Jahre später knietief im Dispo landete: Gründungsmitglied Ali Campbell verließ die Band 2008 wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten, Brian Travers und Terence "Astro" Wilson starben 2021 an Krebs, das UB40-Plattenlabel Dep International taumelte in die Insolvenz. Trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – geben die ehemaligen Gründungsmitglieder nicht auf und legen jetzt mit Gastsänger Matt Doyle ein Album auf, das man genausogut auch "50:50" nennen könnte, denn es besteht zur einen Hälfte aus neuen Songs, zur anderen aus Neueinspielungen verwichener Erfolge.

Die Erwartungshaltung des Rezensenten strebte zugegebenermaßen Richtung X-Achse des kompositorischen Koordinatensystems, also gegen Null. Ja, er dachte sogar den bösen Gedanken "Jetzt wird alter – hihi! – Red red wine in neuen Schläuchen aufgegossen, damit's wieder in der Kasse klingelt, aber braucht das irgendwer?". Der Rezensent irrte glücklicherweise, denn was UB40 auf dem neuen Album aufbieten, ist dann doch überraschend gut und musikalisch über weite Strecken erfrischend. Sie machen nämlich nicht den Fehler, wieder in den Charts-Appeasement-Möchtegern-Reggae der 80er-Jahre zurückzufallen, sondern sie wagen einen vergleichsweise entschlossenen Schritt in Richtung von "echtem" Reggae mit zarten Dub-Exkursionen. Will heißen: Es gibt richtig gute und stabilie Basslinien, auf denen man Häuser errichten könnte. Wir hören eine sahnige Hammondorgel, präzise Offbeat-Arbeit der Rhythmusgitarre, den einen oder anderen Dub-Delay-Anklang, schmissig-punktierte Bläsersätze und auch das eine oder andere solide gemachte "Toasting" statt schnöder Mitgröl-Refrains. Erstaunlich auch, dass das über weite Strecken gut grooven kann, obwohl fast alle Schlagzeugspuren offensichtlich am Sequenzer zusammengeschoben wurden. Was hingegen viele Fragen aufwirft, ist, warum auf mehreren Stücken ein grausam schlecht gesampeltes Saxofon tragende Rollen übernimmt: Hätte man das nicht live einspielen können?

"UB45" überrascht mit einigen starken neuen Nummern, zwei gut und sachdienlich aufpolierten alten Hits in neuer Abmischung, verärgert aber auf der anderen Seite auch mit allzu zahnlosen Neuaufgüssen von Gassenhauern, die man wirklich nicht mehr braucht. Insbesondere "Kingston Town" und "Red red wine" hat man allzu oft gehört, diese Tracks sind endgültig und für immer auserzählt, mithin reif für die Mottenkiste. Das ideale Habitat für die neue UB40-Platte ist anno 2024 glücklicherweise nicht mehr die schlumpfige Sitzparty mit Tee, Kerze und Katze, sondern eher das zünftige Outdoor-Grillfest, bei dem man sich auch mal fröhlich auf der Tanzfläche verrenken darf. Und zu trinken gibt's keinen Fusel, sondern Gin Tonic.

(Jochen Reinecke)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Home
  • Food for thought
  • Champion

Tracklist

  1. Home
  2. Food for thought
  3. King
  4. Champion
  5. Tyler
  6. Trouble
  7. Red red wine
  8. Fool me once
  9. Cherry oh baby
  10. Say nothing
  11. Sing our own song
  12. Gimme some kinda sign
  13. Kingston town
  14. Hope she'll be happier
Gesamtspielzeit: 55:54 min

Im Forum kommentieren

octoberswimmer

2024-04-22 12:20:28

Das letzte Album mit Campbell und Astro fand ich ja deutlich stärker: https://www.plattentests.de/rezi.php?show=18661

musie

2024-04-21 13:43:22

Wow, das Album ist eine positive Überraschung! Das Beste seit langer Zeit.

Loketrourak

2024-04-18 10:19:41

Finde ich auch, aber ich war auch jugendlicher Fan. Nach Labour of Love war für mich Schluss, aber dennoch Sympathie für die Band. Rats in the Kitchen und diese Chrissie Hynde-Nummer hatten Charme.

musie

2024-04-18 10:11:48

Die allererste Single war Food For Thought das sagt schon alles. Ein grossartiger Song. Sowieso, das erste Album ist hervorragend gealtert, auch heute noch stark.

Loketrourak

2024-04-18 09:21:00

Ich erwarte von denen eher nichts mehr, aber sie auf "streng am Reißbrett Popsongs mit Reggae-Anleihen zu konstruieren, die um die Welt gingen" zu reduzieren, tut der Frühphase der Band Unrecht.
Das gilt vielleicht ab Red Red Wine, aber wenigstens die ersten beiden Alben waren toll und auch weitestgehend akzeptiert. Der hiesigen Hipsterpresse waren sie eher egal, aber das ist kein Massstab zur Beurteilung.

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  • UB40 (7 Beiträge / Letzter am 31.05.2022 - 17:27 Uhr)