Nichtseattle - Haus

Staatsakt / H'art
VÖ: 12.04.2024
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10
8/10

Dach überm Kopf

Wie viel Zeit verbringt man eigentlich zu Hause? Die Antwort dürfte von vielen verschiedenen Faktoren abhängen. Home Office ist da in den letzten Jahren ein größeres Thema geworden, aber gehen wir mal davon aus, dass das keine echte Zu-Hause-Zeit ist, weil man mental woanders ist. Lebt man in einer Partnerschaft oder ist man mit seinen Gedanken alleine? Sind die Nachbar*innen freundlich oder ballern auch nachts noch auf voller Lautstärke Techno? Hat man einen einzelnen Raum, in dem einem die Decke auf den Kopf fällt oder wechselt man vom Hobbyzimmer ins Wohnzimmer und am Ende ins Schlafzimmer, wenn es spät wird? Und dann sind da all die kleinen Geschichten, die in all diesen bewohnten Räumen und im eigenen "Haus" stattfinden. Und Katharina Kollmann aka Nichtseattle liebt Geschichten. Deshalb erzählt sie auf ihrem dritten Album Häusergeschichten, und die sind so unterschiedlich wie ihre Bewohner*innen.

Ging es im großartigen "Kommunistenlibido" noch um einen Mikrokosmos in der Nähe von Plattenbauten, sitzt Kollmann dieses Mal zu Beginn in einer Eigentumswohnung und fremdelt, während ihr Gegenüber Beluga-Linsen isst und stolz Bücher von Frauen liest. Ein Song, der den Marktwert von Wohnungen, aber auch dem alternden Selbst verhandelt, wie es nur Nichtseattle kann. Nur um am Ende zum Fazit zu kommen: "All die Schrammen machen uns rund / Es ist mein allerschönster Fund / So Gesichter von Freunden / Die ganz ruhig erzählen / Was sie gerade wirklich fühlen." Zurück in der "Treskowallee (Zelt)" blickt Kollmann dann zurück, anstatt nach vorne: "Mein Gott, wie die Zeit vergeht / Und ich bin immer noch Sportbeutelkind / das stundenlang allein nach Hause geht / Und sich den Beutel um die eigenen Beine schlägt." Selten kann man in Musik spüren, wie Kind und Erwachsene in einem Körper zusammenspielen. Doch der naive, liebevolle, verbale Zuneigungsaustausch am Ende des Stücks profitiert von diesem Zusammenspiel, bis es einfach rausplatzt: "Und ich so: Puh, zum Glück! Juchuuuu!"

Musikalisch fühlt sich "Haus" passenderweise etwas lauter und größer als der Vorgänger an, ohne natürlich jemals wirklich Krach zu machen. Dafür ist Kollmanns langsames Bariton-Gitarrenspiel zu gemütlich und die Percussion zu zurückhaltend. Wenn es etwas verspielter zugeht, wie im motivierten "Unterstand (Schirmpilz)", dann klingt Nichtseattle sehr nach Wir Sind Helden – was eindeutig als Kompliment gemeint ist. "Ich glaub, es liegt an Dir / Wenn Du meinst, ich spiel schön Klavier / Ich spiel ganz simpel meine Lieder / Du bist mir nah, Du erkennst dich wieder", heißt es da. Oder wesentlich trauriger und verzweifelter im nächsten Highlight "Schikane (Plattenbauwohnung Q59)": "Ich hab Dich viel zu oft gedacht / Weiß nicht mehr, ob wir wirklich sind / Ich bin ein Kleinkind in der Nacht / Und ich bin auf dem müden Auge blind." Sieben Minuten Zeit nimmt sich "Frau Sein (Werkstatt)", um in einem größeren Raum mit Bläsern zu diskutieren, was von Frauen erwartet wird und warum es so nicht weitergehen kann. Ein Stück voller Dringlichkeit.

Wenn die eigenen vier Wände nicht mehr reichen, fantasiert Kollmann von einem "Haus aus Papier (Papierhaus)", in dem ihr Knie nicht mehr schmerzt und irgendeiner tanzt. Intim träumt sie: "Und wenn das ginge, bauten wir ein Haus aus Papier / Und es hätte einen Garten / Drin einen runden Tisch mit Spielkarten / Mit denen ich uns die Zukunft lege: Weite gemeinsame Wege!" Nichtseattle ist ein Phänomen, weil man die Texte studieren kann, aber nicht muss, um sofort etwas zu fühlen. Erinnerungsschnipsel, die Tristesse, aber auch die Freude des Hier und Jetzt und die Ungewissheit vor der Zukunft stecken in der Tapete, knarzen zwischen den Dielen, und immer flüstert da Kollmanns Stimme trostspendende Orte. Zu viele ihrer Worte zu zitieren, würde einem Spoiler gleichkommen, weil es in einem ruhigen Moment erlebt werden muss. Und dann sitzt man fasziniert da und stellt sich vor, wer da bei Katharina Kollmann alles wohnt und wie dieses "Haus" aussieht, in dem man sie besuchen darf und warum man so unfassbar gerne so viel Zeit dort verbringt.

(Arne Lehrke)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Beluga (Eigentumswohnung)
  • Unterstand (Schirmpilz)
  • Schikane (Plattenbauwohnung Q59)
  • Haus aus Papier (Papierhaus)

Tracklist

  1. Beluga (Eigentumswohnung)
  2. Krümel noch da (Tagescafé)
  3. Treskowallee (Zelt)
  4. Unterstand (Schirmpilz)
  5. Schikane (Plattenbauwohnung Q59)
  6. In Deiner Straße Bäume (Altbauwohnung)
  7. Frau Sein (Werkstatt)
  8. Heiterprofan (Proberaum)
  9. Haus aus Papier (Papierhaus)
  10. Keinen Kaffee (Türrahmen)
  11. Attribute (Fahrgastunterstand)
  12. Fleißig (Schloss)
Gesamtspielzeit: 66:02 min

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Arne L.

2024-09-24 08:37:35

Würde ich den Text heute noch mal schreiben, wäre "Treskowallee" mittlerweile eindeutig in den Highlights. Dürfte mittlerweile mein meistgehörter Song vom Album sein.

AndreasM

2024-05-27 09:44:52

Ich habe es gestern nun auch endlich in voller Länge und in Ruhe hören können. Ich kann nur zustimmen: Ein kluges und schönes Album. Sehr durchdacht, aber keineswegs vom Reißbrett. Ich finde es sehr erstaunlich, dass so viel Text auf der Platte vorhanden ist und mich fast an keinen Zeilen störe. Im Gegenteil sind sogar einige sprachliche Bilder da, die man sonst nirgends findet. Und bis zum letzten Drittel ist sind die Texte ja eher behutsam mit Musik unterlegt. Aber auch dabei entsteht keine Monotonie.

Ich freue mich auf jeden Fall auf die Show am Wochenende auf dem Immergut und werde sie mir sicherlich auch noch einmal solo im herbst anschauen. Die 8/10 ist auf jeden Fall eine sehr nachvollziehbare Bewertung.

Mawi09

2024-05-24 14:02:27

Bin wie immer etwas spät dran, aber was für ein tolles Album mit außergewöhnlichen Texten! Mir gefallen vor allem die dringlichen Songs, Beluga, Krümel noch da oder Frau sein. Treskowallee ist wunderschön ohne jemals kitschig zu sein. Kannte sie vorher nicht und bin froh, dass sie bei Laut und Kantig gespielt wurde.

The Libertine

2024-05-02 12:38:05

Da gebe ich meinem Vorredner recht, große Platte. Einer der besten des Jahres. Ganz eigen, tolle Texte, super Band. Besser noch als wenn sie Solo agiert.

Enrico Palazzo

2024-05-02 12:37:23

Für mich hat das sehr, sehr viel Potenzial, aber ich glaube, so richtig wirds mich erst begeistern, wenns ein bisschen mehr in Form gegossen ist. Ich höre da wunderbare Texte, es blitzen ganz tolle Melodien und Refrains auf - aber es gibt immer nen Punkt, wo ich abschweife, weil ich das Gefühl habe, dass die Songs aufgrund der Hinwendung zur Kunst oder zur Message irgendwann wegleiern. Ich weiß nicht, wie ich es sonst sagen soll. Ich würde mir wünschen, dass die Songs schneller mal auf den Punkt gebracht würden. Ein, zwei Songs am Stück schaffe ich und dann ists für mich leider vorbei.

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