The Libertines - All quiet on the Eastern Esplanade

EMI / Universal
VÖ: 05.04.2024
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10
8/10

Die Ruhe der Versehrten

Wohl nur selten kam die Wiederbegegnung mit einer altbekannten Band nach längerer Pause zugleich so vertraut daher. Als sich Peter Doherty und Carl Barât während der Jubiläumskonzerte zu ihrem Debüt "Up the bracket" vor knapp zwei Jahren so innig in den Armen hielten wie auf dem Cover ihres Zweitlings – wenn auch deutlich klareren Blicks –, schnellte der Puls mancher Rock'n'Roll-Romantiker*innen bereits in die Höhe. Liegt hier was im Busch? Im vergangenen Jahr folgte mit "Run run run" die erste Single seit acht Jahren: Die schrammelnden, schlierenziehenden Gitarren, die reuig-kontemplative Bridge – alles schreit nach einem Selbstzitat, dem Barât grinsend die Krone aufsetzt: "Well I've given up caring for happiness / When this heart gives out is when I'll rest", schnoddert er heraus und sinniert wie einst vom destruktiven "life on the lash". John Hassalls Bass pumpt präsenter als früher, Gary Powells Schlagzeug poltert etwas aufgeräumter, doch vieles fühlt sich nach den Exzessen früherer Tage an, ohne freilich noch alles aufs Spiel setzen zu müssen. Es folgten die gewitzte literarische Referenz im Albumtitel "All quiet on the Eastern Esplanade" (für alle Fußballfans: auch eine Anspielung auf den Namen von Dohertys erstem Fanzine für die Queens Park Rangers in den Neunzigern) und – auch das irgendwie symptomatisch für echte Libertin(e)s – der kurzfristig um ein paar Wochen nach hinten verschobene Release-Termin.

Tatsächlich tauschten Doherty und Barât schon nach der Jubiläumstour 2022 erste Ideen aus, fanden dazu als Tandem auf Jamaika zusammen, das bald wieder zum Quartett erweitert wurde. Erstmals teilen die vier Libertines die Songwriting-Credits aller Lieder, was dem organischen Entstehungsprozess Rechnung trägt, zugleich aber auch ein breiteres stilistisches und thematisches Spektrum in Aussicht stellt. Die dritte Single "Shiver" präsentiert astreinen Indie-Pop, in dem sich historische Zäsuren in persönliche einschreiben: "It's all too much today / Liz has gone away", murmelt Doherty ins Mikro, und es fällt schwer, darin keinen verschrobenen Tribut an die verstorbene Königin zu hören. Ohnehin: Haben The Libertines und insbesondere Doherty nicht immer den Wunsch nach einem mythologischen England, dem sagenumwobenen Albion formuliert? Dass es sich dabei um eine Utopie, eine Neubestimmung handelt, um die es sich dennoch zu kämpfen lohnt, deutet "Merry old England" an. Mit fast fünf Minuten ein Epos im Kontext der Band, lässt es sich von dunklen Klavierakkorden tragen, die Dohertys Frage so elegisch wie vieldeutend klingen lassen: "Syrians, Iraqis and Ukrainians / How you're finding merry old England?" Streicher waschen im langen Outro heran, Doherty heißt die Geplagten mit brüchiger Stimme willkommen, um neues Altes aufzubauen.

Andernorts geht es beschwingter zu: "Mustang" pendelt zwischen Jangle-Pop mit Falsetteinlagen und an Blur erinnernden, skurrilen Milieuzeichnungen ("dishwater skies"), "Be young" fungiert als punkiger Throwback mit durcheinanderwirbelnden Leads, "Oh shit" wiederum klingt mit seinen fuzzigen Gitarren verblüffend nach amerikanischem College-Rock, den Barât sogleich nach erfolgtem Währungswechsel kommentiert: "I won the dollars in your eyes." Und doch sind es diesmal vor allem die Balladen, die auffallen. Ein verspultes Gitarrensolo, Glockenspiel und Wechselgesang umgarnen sanft die hoffnungslosen Bohemien(ne)s in "Man with the melody", später lauert gar ein intensives cineastisches Doppel. "Night of the hunter" steckt voller lyrischer wie musikalischer Filmverweise, fährt eine Spaghetti-Western-Gitarre und Glockenschläge auf, während sein Protagonist auf die unweigerliche Stellung durch das Gesetz wartet. Auch das anschließende "Baron's claw" suhlt sich gekonnt in seiner Atmosphäre, das Klavier perlt, die Trompete verweht. "Stories never get old when there's still things to be told", reimt Doherty so schlicht wie präzise, während er manche Erkundung seiner Soloalben mit den alten Weggefährten teilt.

"All quiet on the Eastern Esplanade" schließt mit einem dieser Songs aus den Libertines-Apokryphen, von denen man sich kaum noch eine Studioversion versprochen hätte: "Songs they never play on the radio" liefert all die sensible Sentimentalität und windschiefe Poesie alter Bandklassiker, wobei sich der Text wegbewegt vom Kommentar auf die seinerzeit neue Download-Kultur. "What was that song they played, the day you went away?", erklingt es im Fade-out mit schmachtenden Frauenchören. Statt eines Outros hört man danach Bandpalaver im Studio: "You be the women!", lacht Barât, während Doherty versucht, mit der Kopfstimme das eben Gehörte nachzusingen. Dieser gab vor wenigen Wochen in einem Guardian-Interview zu Protokoll: "Everything I write is for Carl." Am Ende steht vielleicht doch die Überraschung: Wer hätte einst gedacht, dass The Libertines 2024 so gelassen, liebevoll und heiter klingen würden?

(Viktor Fritzenkötter)

Bei Amazon bestellen / Preis prüfen für CD, Vinyl und Download
Bei JPC bestellen / Preis prüfen für CD und Vinyl

Highlights & Tracklist

Highlights

  • Merry old England
  • Night of the hunter
  • Baron's claw
  • Songs they never play on the radio

Tracklist

  1. Run run run
  2. Mustang
  3. I have a friend
  4. Merry old England
  5. Man with the melody
  6. Oh shit
  7. Night of the hunter
  8. Baron's claw
  9. Shiver
  10. Be young
  11. Songs they never play on the radio
Gesamtspielzeit: 38:32 min

Im Forum kommentieren

Deaf

2025-02-14 09:14:45

Gestern auch erstmals reingehört, zur Vorbereitung auf das heutige Konzert. Hat schon ein paar nette Melodien, aber so richtig hat mich nichts gepackt. Aber live wird das wohl nicht weiter stören, die Songs werden da hoffentlich etwas roher sein als auf Platte.

Gordon Fraser

2025-02-14 09:03:55

Ich habe "Oh Shit" live vermisst, für mich ein Höhepunkt der ansonsten ziemlich okayen Platte, die ich aber klar hinter die ersten beiden einordne.

Kojiro

2025-02-13 18:48:37

Wertung passt weitgehend. Merry Old England würde ich 9/10 geben. Oh Shit mag ich recht gerne, kriegt 7,5/10.

Tolle Platte.

Rote Arme Fraktion

2025-02-13 12:25:07

Live haben mich die Songs fast alle gecatcht am Sonntag. Gehe bei der Bewertung größtenteils mit.

The Libertine

2025-02-13 11:18:59

Mit einigem Abstand ist es schon eines der besten Alben der Band. Es hat ein paar Schwachpunkte, aber die Highlights strahlen vielleicht hell wie nie.

Einzelwertung

01 Run Run Run 09/10 - hat Drive, schöne Phrasierungen in den Strophen, ein Refrain der knallt! Eine echte Hymne, die immer mehr gewachsen ist.

02 Mustang 08/10 - ich mag die Sprachbilder, diese kleine Sozialstudie "Stacy likes to drink when the kids are in school" - die Harmonien im letzten Drittel passen auch, hat so einen Madness-Früh-Achtziger Pop Vibe, der mir gefällt.

03 I have a friend 8/10 - Typischer Libs-Sound (Dengelgitarren) und Pete ist das erste Mal richtig präsent. Eingängig und schön.

04 Merry old England 8/10 - Song toll, Message auch, vielleicht etwas überproduziert.

05 Man with the Melody 9/10 - zeigt neue Facetten der Band, eine Art altersgerechte Reife. Sehr atmosphärisch, jeder darf mal ans Mikro. Könnte man ausbauen.

06 Oh Shit 06/10 - der erste kleine Hänger. Song ist solide, hier wird etwas bemüht an alte Rowdy Zeiten angeknüpft, leider steht die insgesamt poppige Produktion hier etwas im Weg. Es zeigt: Punk am Reißbrett ist nicht mehr der interessante Weg für die Band

07 Night Of The Hunter 10/10 - Klassiker. Inklusive Swansea Referenz. Eine Art Jugendrama, die Stimmen von Barat und Doherty sind schön ineinander verworben. Es teigt, was diese Gruppe in ihren besten Momenten auszeichnet: Zeitlos brillantes Songwriting

08 Barons Claw 08/10 - Typische Vaudeville Nummer, wie sie Doherty auch immer wieder auf Solo oder Babyshambles Alben eingebaut hat. Schöner Break mit Trompeten.

09 Shiver 10/10 - Klassiker Nummer 2: Kreisende Klaviermelodien, großartiger Text.

10 Be Young 06/10 - der andere etwas bemühte Song. Solide dennoch, der Reagaepart ist gut.

11 Songs they never play on the radio 08/10 - ein Uraltsong, großartige Harmonien, tolle Gitarren! Das Fade Out nervt allerdings etwas.

8.1

Würde sagen, die Gesamtatmosphäre und die sehr tollen Highlights heben es zumindest auf eine 8.5. - für mich hinter "Up The Bracket", aber auf einer Stufe mit "The Libertines". Das ebenfalls sehr gute "Anthems for doomed youth" leicht dahinter.

Was meint ihr?

Hinterlasse uns eine Nachricht, warum Du diesen Post melden möchtest.

Spotify

Threads im Forum