Kettcar - Gute Laune ungerecht verteilt
Grand Hotel van Cleef / IndigoVÖ: 05.04.2024
Unter uns
Es ist ja nicht so, als wären tolle Comebacks unmöglich. Selbst, wenn man bei einer fünfjährigen Schaffenspause nicht zwingend von Comeback sprechen muss, bei Kettcar fühlte es sich definitiv so an. Mit "Ich vs. wir" erfanden sich die Hamburger neu. Und zündeten etwas an, das zumindest der Schreiber dieses Textes nach "Zwischen den Runden" als fast erloschen ansah: Emotionalität! Aufrütteln! Kollektive Freude an dieser Band! Selten war sie so spürbar wie bei den Konzerten zum bislang letzten Werk. So klar, druckvoll und aufwühlend hatte man die Hamburger Institution vom knust'schen Lattenplatz sehr lange nicht gehört. Natürlich waren die Themen jener Zeit Triebfeder für die Band, überhaupt nochmal Musik zu machen.
Wenig überraschend wurden die Zeiten keine besseren. Jetzt führt Russland Krieg in der Ukraine, sind autoritäre Regime und verkappte Despoten im Aufwind, werden reaktionäre Kräfte stärker und stärker. "Aber doch nicht bei uns?" Denkste. Querdenker, AfD, Identitäre, Antisemiten: Gekommen um zu bleiben. Warum das Schwarz-Weiß-Mantra, die Glorifizierung konservativer Ideale derart fruchten? Vielschichtig. Sicherlich auch, weil Alltagsrassismus in diesem Land seit Generationen als Normalität gelebt wird. Treffender als Kettcar im ruppigen wie großartigen Postpunker "München" kann man diesem rostigen, schwarz-rot-golden schimmernden Nagel kaum auf den Kopf schlagen. Basser Reimer Bustorff schrieb den Song, und irgendwo hat er dabei die olle wie tolle But-Alive-Kiste gefunden – und Fjørt-Mann Chris Hell ans Mikro gezerrt. Ein erdrückendes Stück Musik, im besten Sinne. Doch wo ansetzen, was tun? Dem Populismus nicht auf den Leim gehen, den Diskurs aushalten, Gemeinsamkeiten suchen. Leichter gesagt als getan, aber in "Auch für mich 6. Stunde", einer Wiebusch'schen Lyrik-Bombe, wunderbar in Worte gegossen: "Und Du hoffst: Weisheit mit Löffeln für alle / Und Du denkst: Ein Löffel Pech und das Ganze 'ne Falle / Und Du weißt, was uns verbindet / Bevor die letzte Hoffnung schwindet / Ein Bengalo in der Nacht."
"Gute Laune ungerecht verteilt", das sechste Kettcar-Album, ist jedoch kein zweites "Ich vs. wir" geworden. Das Quintett weitet den Blick, sowohl musikalisch als auch textlich. Lässt Raum für subtile Gedanken, für abseitige Beobachtungen. "Rügen" bringt nicht nur kauzig die Zahnputz-Technik Darth Vaders ins Spiel, sondern zelebriert im fluffigen Kettcar-Galopp die kollektive Unzufriedenheit inmitten des "Wir ham' ja alles, aber alles ist zu viel": "Atmen, atmen, funktionieren / Niemals die Geduld verlieren / Da ist so viel Freude / Aber kein Spaß." Und die Mühlräder des Alltags rattern unerbittlich. Der Indierocker "Blaue Lagune, 21:45 Uhr" angetrieben von feinen Gitarrenlicks, erzählt gleich drei unterschiedliche Episoden – milieugeprägt ist hier der vielleicht treffendste Begriff.
Jener zunächst unscheinbare Mittelteil der Platte, für Berufskritiker womöglich auch kettcar'sches Malen nach Zahlen, lädt indes zum Lesen zwischen den Zeilen ein. Besonders einfühlsam gerät auch "Was wir sehen wollten", ein umarmende Geschichte im tristen Krankenhauszimmer und gleichsam ein melodiegetränkter Song: Es geht um Genesung, Einsamkeit, Ohnmacht – und wo genau hinter der Fensterscheibe wohl die Hoffnung ist. Wen Kettcar-Lyrics seit langem begleiten, weiß, dass die Hamburger sich auch um die Reflexion der eigenen Position inmitten einer gewissen Blase bemühen. Zum Beispiel beim "Einkaufen in Zeiten des Krieges", wenn sich im Supermarkt die unterschiedlichen Milieus mischen und überall Menschen sind, die Inflation und Energiekrise mehr belasten als einen selbst. Denn "Nicht alle in Hamburg wollen zu König der Löwen", wenn die Existenz langsam zerbröselt. Es wirkt fast grotesk, wie sehr wir jene immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich einfach hinnehmen.
Wer Wiebuschs Art des Textens kennt, wird dennoch ein wenig baff sein, wie er im tollen Closer "Ein Brief meines 20-jährigen Ichs (Jedes Ideal ist ein Richter)" die eigenen Ansprüche und Ideale reflektiert, wie auch seine Ängste und den (künstlerischen) Umgang damit. Wer müsste nicht einmal über sich richten? "Kanye in Bayreuth" ist der wohl experimentellste Track der Platte. Das Stück pumpt und schnaubt im seidigen Hip-Hop-Gewand, Wiebusch sprechsingt und spiegelt den Jüngern des korrekten Musikgeschmacks die aktuelle Position ihrer moralischen Kompassnadel. Selbst, wenn sich diese Frage vorwiegend Musiknerds stellen, trifft sie den Zeitgeist: Wo sich positionieren zwischen Gut und Böse, Alt und Neu? Und wen noch supporten inmitten all der Shitstorms und Meinungspole? Rammstein, Morrissey, Kanye und Co. grüßen mit gequältem Grinsen. Vielleicht sind verschmitzt-verzerrte Mundwinkel ja das passende Bild für ein Leben in dieser aufgewühlten, rastlosen und gleichzeitig nach Halt suchenden Gesellschaft. Die sich in einem jedoch sicher sein darf: Kettcar sind da, sie sind mitten unter uns. Ein Glück.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Auch für mich 6. Stunde
- München
- Kanye in Bayreuth
- Was wir sehen wollten
- Ein Brief meines 20-jährigen Ichs (Jedes Ideal ist ein Richter)
Tracklist
- Auch für mich 6. Stunde
- München
- Doug & Florence
- Rügen
- Kanye in Bayreuth
- Blaue Lagune, 21:45 Uhr
- Wir betraten die Enterprise mit falschen Erwartungen
- Einkaufen in Zeiten des Krieges
- Was wir sehen wollten
- Bringt mich zu Eurem Anführer
- Zurück
- Ein Brief meines 20-jährigen Ichs (Jedes Ideal ist ein Richter)
Im Forum kommentieren
Glufke
2024-08-31 22:22:30
Ich finde den Großteil als Einzelsongs ganz stark, sodass mindestens fünf Songs in meiner Jahres-Playlist gelandet sind. "Blaue Lagune, 21.45 Uhr" finde ich z.B. vollkommen unterschätzt, am Anfang empfand ich ihn eher als Filler, aber der ist mir richtig ans Herz gewachsen.
Als Album funktioniert es aber wirklich nicht so gut, da hat "Ich vs. Wir" die Latte sehr hoch gehängt.
Hoschi
2024-08-31 19:58:49
Geht mir mittlerweile ähnlich.
Hab's seit dem Release auch nicht mehr angehört.
Ihr schwächstes würde ich jetzt nicht sagen aber definitiv im Mittelfeld und deutlich unter ich VS wir, was ich, zusammen mit der darauffolgenden EP, persönlich für ihr bestes halte.
Kiezgrün
2024-08-31 16:31:15
Mit etwas Abstand: Ihr schwächstes Album. Ich habe quasi nie das Bedürfnis, es zu hören und wenn, bleibt nichts hängen, weil die Songs sich zu sehr ähneln und keiner mich berührt.
Gilgamesch
2024-06-01 12:21:47
Mein 20-jähriges Ich hört kettcar :( was tuhn?
Yersinia
2024-06-01 00:33:53
Krass. Finde die beiden Songs sicher gut, aber '20-jähriges Ich', 'Bayreuth', '6. Stunde' und 'Anführer' finde ich bedeutend besser. Aber das zeigt auch nur: Geiles Album!
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