Elbow - Audio vertigo
Polydor / UniversalVÖ: 22.03.2024
Keine Vögel
"Looking back is for the birds." Was Guy Garvey in einem der allergrößten Elbow-Songs singt, könnte als Motto für die ganze Band herhalten. Natürlich gab es immer wieder inhaltliche oder musikalische Rückgriffe, doch schafften es die Briten stets, jedem neuen Album seine eigene Kontur zu geben und ihre Identität damit vorwärtsdenkend zu erweitern. Dennoch ist "Audio vertigo" nochmal besonders, was gleich die erste Single "Lovers' Leap" dick unterstreicht. Erzeugte die orchestrale Reduktion von "Flying dream 1" noch einen Lounge-Jazz-Vibe, explodieren Bläser und Drums hier zu heißglühendem Afrobeat. Garvey schwebt über den zitternden Rhythmen, räumt in der Bridge ein paar Riff-Schaufeln den Weg frei und will sich metaphorisch von der Klippe stürzen – ein "leap of faith", dessen Ausgang nicht fatal ist, sondern den Wagemut belohnt. Noch nie drängelte eine Elbow-Platte so entschieden nach draußen wie "Audio vertigo".
Wer von diesem Ansatz offensive Pop-Hooks und Krach-Ausbrüche erwartet, wird allerdings gleich vom Opener auf den Boden geholt. "Things I've been telling myself for years" gibt seinem fetten Beat zunächst 40 Sekunden Luft, bevor Garvey eine Gospelchor-unterstützte Gesangshypnose vorführt, mit der er auch auf der Bühne des "Tranquility Base Hotel & Casino" auftreten könnte. Grundsätzlich kommt "Audio vertigo" viel über die Grooves, die Melodien und Wortschwalle des Frontmanns faszinieren wie eh und je, brauchen jedoch eine Weile, um sich festzukrallen. In diesem Sinne demonstrieren Elbow auf ihrem zehnten Album eindrucksvoll, wie sich eine Band freischwimmen kann, ohne ihre Trademarks zu ertränken – und dabei auch innerhalb einzelner Tracks nie stillsteht. "Knife fight" blüht im Schlussdrittel nicht nur zur Hymne auf, sondern schält sich auch textlich zu einem versteckten Kern ab. "I woke up thinking about the knife fight / I saw in Istanbul / The fellas left together laughing and bleeding / Oh, and the moon was full", dokumentiert Garvey, nutzt diese Erinnerungen jedoch nur als Sprungbrett, um über das unfassbare Wesen der Liebe zu sinnieren: "Is it 'cause we / Communicate disastrously? / 'I want you', 'I love you', 'I need you' / What's that supposed to mean?"
Dem musikalischen Freigeist der Platte entsprechend, schlagen auch die Lyrics oft verspielte Haken. "There's no love for me / On this train / There's no cocaine in this cocaine", beklagt der Erzähler von "The picture", das zwischen Post-Punk-Strophen und einem von Streichern in die Höhe gerissenen Refrain pendelt. "From the river", das sich mit ebenso viel Hüftschwung wie Grandeur zu einem der besten Elbow-Closer aufschwingt, formuliert sein Mantra dahingegen ohne jede ironische Brechung: "Bring us home something bright from the river / Bring us home something beautiful, son." Im alle Stilgrenzen komplett auflösenden "Her to the Earth" existieren Synth-Bass zerkauender Funk, mysteriöses Stimmen-Chaos und Elbow-typische Gleitmanöver so selbstverständlich miteinander wie seine scheinbar widersprüchlichen Sentiments. "We live in a troubling age." "All that breathes is a chorus of peace tonight." Alles ist eins in einer verstörend-wunderschönen Welt.
Daneben darf jedoch nie in Vergessenheit geraten, wie viel gottverdammten Spaß "Audio vertigo" einfach macht – egal, ob "Balu" mit Tiefenverzerrung und maximaler Bläser-Wucht jedes Spotlight auf sich zieht oder "Good blood Mexico City" als wahrscheinlich simpelster Rocksong der Band "This is the day for big decisions", verkündet. Einem konsequenten Ruhepol am nächsten kommt "Very heaven", was viel aussagt angesichts dessen, dass dieser Schleicher mit luftigem Akustik-Prog-Chorus und kryptischen Lyrics à la "Seventeen is anti-gravity" alles andere als ruhig ist. Wer Elbow in erster Linie für Balladen wie "Great expectations" oder "Lippy kids" liebt, könnte mit "Audio vertigo" Probleme bekommen – darf sich aber auch nicht mit falscher Erwartungshaltung entschuldigen, immerhin haben Garvey und Co. mit Betonung ihrer "garagigen" Energie und akkuratem Referenz-Dropping im Vorfeld eine mehr als passende Selbsteinordnung ihres Werks vorgenommen. "Communicate disastrously?" Mitnichten.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Lovers' Leap
- Balu
- Her to the Earth
- From the river
Tracklist
- Things I've been telling myself for years
- Lovers' Leap
- (Where is it?)
- Balu
- Very heaven
- Her to the Earth
- The picture
- Poker face
- Knife fight
- Embers of day
- Good blood Mexico City
- From the river
Im Forum kommentieren
8hor0
2024-10-10 16:40:15
sollten mal eine collab mit tennis machen. ^^
The MACHINA of God
2024-08-19 10:07:46
Geht mir genauso. Besonders mit guter Laune und Sonnenschein.
Unangemeldeter
2024-06-17 09:24:46
Immer noch ein Spitzenalbum. Ich hab richtig Spaß mit dem Teil.
boneless
2024-04-14 19:41:49
Tolles Album. Auch nach mehreren Durchläufen. Ich mag, wie unprätentiös und unaufgeregt, aber trotzdem präsent sich Elbow 2024 geben. Sicher fehlen die ganz großen Melodien, dass macht Audio Vertigo aber mit einem sehr geschmackssicheren Songwriting wett, an dem man schlicht gar nichts aussetzen kann. Ein Platte wie ein freundlicher, unaufdringlicher Begleiter.
hesmovedon
2024-04-05 21:23:25
Einziger Negativpunkt: Der Titel "Balu" erinnert mich als Österreicher an einen gewissen Musiker namens Andreas G....;-)
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