Schoolboy Q - Blue lips
Top Dawg / InterscopeVÖ: 01.03.2024
Mut zur Lücke
"Lost a homeboy to the drugs, man, I ain't tryna go backwards." Um in "Blue lips", das sechste Album von Quincy Matthew Hanley alias Schoolboy Q, einzusteigen, bietet sich "Blueslides" besonders an. Über traurigen Glitzerfontänen aus Piano und Bläsern, die nicht im Geringsten etwas mit einem HipHop-Beat gemein haben, gedenkt der kalifornische Rapper seinem 2018 verstorbenen Buddy Mac Miller. Im zweiten Vers verschiebt sich jedoch der Fokus: "We was screamin', 'Mental health', and now we wanna kill 'em all", heißt es da, diesmal bezogen auf Kanye West. Es ist eine, man muss es so deutlich sagen, in ihrer Oberflächlichkeit strunzdumme Aussage, Kanyes Nazi-Annäherungen und sonstigen Bullshit unter dem Banner seiner psychischen Probleme zu entschuldigen – doch Hanley ist nicht hier, um sich mit einer sympathischen Persona Freunde zu machen. Auf seiner ersten Platte seit fünf Jahren zeichnet der ehemalige Gangster, der zu Beginn seiner Karriere etwas wie die grobschlächtigere Version des damaligen Labelkollegen Kendrick Lamar wirkte, die Konturen seiner inneren Widersprüche nach. Und verwendet als Leinwand dafür seine interessanteste Musik seit "Oxymoron".
Von den all den Möglichkeiten, wie ein Schoolboy-Q-Album beginnen kann, ist die aus Gitarren, Chor und Flöten geflochtene Soft-Psychedelia von "Funny guy" eine der unwahrscheinlicheren. "Pop" kippt die Stimmung komplett, sein von einer zitternden Elektrischen aufgeriebener Midtempo-Beat klingt fast No-Wave-artig, während Hanley klarmacht, dass er technisch noch immer zu den besten im Rap-Game gehört – auch wenn ihm Rico Nasty in der Schlussminute kurz das Rampenlicht stiehlt. "Gang shit, I invented that", gockelt Hanley, das folgende "Thank God 4 me" trägt die Bescheidenheit schon im Titel. Wenn jener Track zwischen Oldschool-Soul-Schwelgereien und Fanfaren-Party pendelt, ist das genauso wenig ein Einzelfall wie die abrupten Tempowechsel von "Love birds". Die ganze Platte macht die Richtungsänderungen innerhalb einzelner Tracks zum ästhetischen Prinzip. "Ohio" beschreibt sogar eine kleine Suite: Vintage-Schlafzimmer-Funk räumt einem kurzen Synth-Sprint den Weg frei, bevor Hanley und Freddie Gibbs in der Jazz-Lounge den Champagner köpfen. Ist das schon Prog-Rap?
Ähnlich abenteuerlustig trumpft "First" auf, das sein zentrales Death-Grips-Sample vor wechselnden Hintergründen anstrahlt, während "Foux" die Trümmer eines Jungle-Beats auf geisterhafte Stimmen und Tasten treffen lässt, die auch von Thom Yorke stammen könnten. Der zweifache Vater hat seinen charakteristischen Bucket-Hat mittlerweile durch ein Golf-Käppi ersetzt, doch "Blue lips" bleibt ein Werk der Zerrissenheit, durch das die nicht nur materielle Selbstzufriedenheit genauso pulsiert wie die von den Geistern der Vergangenheit angestachelte Ambition. Banger wie das basszerfressene "Yeern 101" oder die Anti-Cop-Hymne "Pig feet" fühlen sich nicht weniger ausformuliert an als ein nachdenklicher Downer à la "Nunu". In einem Moment ist Hanley noch von Selbstzweifeln geplagt, im nächsten erklärt er, "Back in love with this shit" zu sein, und lässt sich auch nicht davon irritieren, dass Feature-Gast Devin Malik den entsprechenden Track fast in den Bunker schlägt.
Die Texte kippen zuweilen in Allgemeinplätze wie "A man's supposed to have scars" aus "Time killers" oder "We all seen hell" im elegant von The Alchemist produzierten "Lost times", doch überwiegen klar die intimen Geständnisse. Die Reflexionen über Schulschießereien von "Cooties" entspringen dem Anblick der eigenen Töchter, in "Germany 86'" denkt der in Wiesbaden geborene Mann an seine vaterlose Kindheit zurück: "My mom stayed workin' late, she taught me how to be great / My superhero's a woman." Es ist in Anbetracht solcher Zeilen so schade wie erwartbar, dass Hanley an anderen Stellen doch wieder misogyne HipHop-Tropen reproduziert. Wer Musik in erster Linie aufgrund ihres Identifikationspotenzials hört, wird mit "Blue lips" Probleme bekommen – als hochspannend in Szene gesetztes Porträt einer komplizierten männlichen Psyche lässt es sich zu den besten Genre-Releases des bisherigen Jahres 2024 zählen.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Blueslides
- Ohio (feat. Freddie Gibbs)
- Foux (feat. Ab-Soul)
- Pig feet (feat. Childish Major)
Tracklist
- Funny guy
- Pop (feat. Rico Nasty)
- Thank God 4 me
- Blueslides
- Yeern 101
- Love birds (feat. Devin Malik & Lance Skiiiwalker)
- Movie (feat. Az Chike)
- Cooties
- Ohio (feat. Freddie Gibbs)
- Foux (feat. Ab-Soul)
- First
- Nunu
- Back n love (feat. Devin Malik)
- Lost times (feat. Jozzy)
- Germany 86'
- Time killers
- Pig feet (feat. Childish Major)
- Smile
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Unangemeldeter
2024-03-15 22:49:04
Mich holt es irgendwie so überhaupt nicht ab, hab's jetzt ein paarmal versucht, soll aber wohl nicht sein. Kein einziger Song dabei auf den ich nochmal Lust hätte.
boneless
2024-03-15 22:45:29
Keine Resonanz? Seltsam. Ich find die Scheibe weiterhin absolut großartig, da wird so gut wie jegliche Emotion des Rap abgedeckt, von aggressiv bis chillig geht auf Blue Lips schlicht alles und auch beattechnisch ist es Wahnsinn, was hier aufgefahren wird. Ohne Zweifel ein Highlight des Jahres.
Armin
2024-03-13 21:17:55- Newsbeitrag
Frisch rezensiert.
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