Pete Astor - Tall stories & new religions

Tapete / Indigo
VÖ: 15.03.2024
Unsere Bewertung: 5/10
5/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Bröckelnde Blumen

Es gibt da diesen schönen Film "Broken flowers", in dem ein auch für seine Verhältnisse ungewohnt melancholischer Bill Murray verflossenen Liebschaften nachspürt und ihnen einen letzten Besuch abstattet. Denn: Er hat durch einen anonymen Brief erfahren, dass er einen 19-jährigen Sohn hat. Das Abklappern alter Orte und Lebenssituationen in der Hoffnung, dass da noch ein neuer Aspekt, ein neuer Dreh, eine neue Entdeckung schlummert – daran denkt man unweigerlich auch bei Pete Astors neuem Album "Tall stories & new religions". Hier versammelt Astor ausschließlich bereits geschriebene Songs in neuem Gewand, vulgo: neu eingespielt, aufgenommen und produziert. Astor war ja bekanntlich nicht nur solo unterwegs, sondern auch mit Formationen wie The Weather Prophets, The Loft und The Wisdom Of Harry. Der Back-Katalog des Musikers dürfte eigentlich ausreichend variantenreich und gut sortiert sein, um die eine oder andere Perle hervorzufischen, oder?

Nun – jein! Der Ausflug kann nicht als rundheraus geglückt betrachtet werden, er war jedoch auch definitiv nicht vergebens. So kann man beispielsweise die Instrumentierung je nach Gemütslage als kohärent oder auch reichlich uninnovativ bezeichnen. Neben dem immer etwas neben der Spur und auch leicht verschlafen wirkenden Gesang von Astor wird fast jeder der zwölf Songs von einer nach vorn gemischten, leicht angezerrten Tremologitarre dominiert, zu der eine akustische Gitarre brav Akkorde schrubbt, während der Schlagzeuger fast ausschließlich sparsame Besenarbeit verrichtet und der Bass eine weitgehend überraschungsfreie Grundierung abliefert. Das ist solide gemacht und in manchen Momenten durchaus stimmungsvoll, birgt aber auf der anderen Seite keine überkandidelt anmutende Schöpfungshöhe.

Astor ist auf dem neuen Album immer dann stark, wenn er seine ausgetretenen Pfade verlässt. So hat er es tatsächlich gewagt, dem The-Weather-Prophets-Klassiker "Head over heels" ein paar ganz neue Akkordfolgen zu spendieren, was dem zuvor reichlich ereignislos vor sich hin rumpelnden Song ganz neue Qualitäten verleiht. Sehr schön und emotional anfassend ist auch das zerbrechliche und deutlich reduzierte "Marsh blues", das stille Momente und kleinere Pausen zulässt. Und in "On top of the driver" hat sich offenbar einmal der Drummer durchsetzen dürfen, er steuert minimal ins Sambaeske lugende Fills bei, die dem Song fast eine Art Groovyness verleihen. Auf der Habenseite steht auch die durchweg sehr schöne, klare und transparente Produktion. Leider gibt es aber auch einiges an Mittelmaß: "She comes from the rain", welches sich in der Originalfassung von 1987 durch angenehm nächtlich-sinistre Atmosphäre auszeichnete, plätschert in der Neuauflage eher belanglos vor sich hin, "Model village" und "Ladies and gentleman" bieten – freundlich ausgedrückt – nur sparsames, bestenfalls effizientes Songwriting. Und "The emperor, the dealer and the birthday boy" wurde dermaßen konsequent mit einem klebrig-süßen Streichersynthie zugekleistert, dass man fast etwas angewidert zum Lautstärkeregler greifen möchte.

Weiter oben stand es schon: Die Reise hat sich trotzdem gelohnt, denn es befinden sich auch einige herausragend starke Stücke auf diesem Album. Und nicht zuletzt ist die Bewertung dieser zwölf Tracks auch eine Sache der Rezeptionshaltung: Per iPhone und Kopfhörer in einer Berliner U-Bahn gehört, die sich ratternd und quietschend in einen Tunnel bohrt, mag das alles zuweilen allzu risikolos und wenig innovativ anmuten. Das gleiche Album, halb zwei Uhr morgens draußen vor einer Strandbar auf den Florida Keys bei warmer Brise und nach vier gut eingeschenkten Margaritas genossen: Könnte ein echtes Träumchen – oder durchaus auch acht statt fünf "Punkte" wert – sein. Wie auch immer: Man kann und sollte diesen Blumenstrauß durchaus noch ein bisschen in der Vase stehen lassen, für den Komposthaufen ist er deutlich zu frisch.

(Jochen Reinecke)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Head over heels
  • Marsh blues
  • On top of the driver

Tracklist

  1. Model village
  2. Ladies and gentleman
  3. Chinese cadillac
  4. The emperor, the dealer and the birthday boy
  5. She comes from the rain
  6. Nancy true knot
  7. Caesar boots
  8. Head over heels
  9. Marsh Blues
  10. Emblem
  11. Disney queen
  12. On top of the driver
Gesamtspielzeit: 40:29 min

Im Forum kommentieren

Immermusik

2024-03-19 16:16:09

Klassischer Pete Astor Indie Pop. Ich höre die Songs nicht als uninnovativ, sondern als zeitlos. Wie seine letzten Solosachen auch.
Feine Begleitband: drummer Ian Button (Death in Vegas, Go Kart Mozart), bassist Andy Lewis (Paul Weller), guitarist Wilson Neil Scott (Felt, Everything But the Girl) and keyboardist Sean Read (Beth Orton, Iggy Pop, Edwyn Collins, etc).
7,5/10

Jochen Reinecke

2024-03-19 09:18:56

Hallo MickHead - ja, das einsortieren eines ganzen Albums in eine einzige "Nummer" ist immer ein schmerzhafter Prozess, auch für uns Rezensenten. Am Ende zählt immer der Gesamteindruck, das Gefühl, das bleibt. Und bei mir war es dann leider doch zu oft die "gepflegte Langeweile", obwohl ich großer Astor-Fan bin und die Weather Prophets "damals" live miterlebt habe. Viele Grüße

MickHead

2024-03-16 12:00:09

Wenn man sich laut Rezension auch für 8 statt 5 Punkte entscheiden könnte, sollte man vielleicht den Mittelweg finden. Für so ein Wohlfühlalbum ist die Wertung gegenüber aktuellen Rezensionen wie z.B. Il Civetto oder Doodseskader m.M. nicht angebracht. Aber diese Art Musik hat hier schon länger kein Standing mehr. Fazit: Jeder hat nun mal seine Meinung! Im übrigen vergibt AllMusic 4 von 5 Sterne.

https://www.allmusic.com/album/tall-stories-and-new-religions-mw0004197869

Armin

2024-03-06 21:00:43- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

Meinungen?

MickHead

2024-02-20 12:37:13

Wenn ich an Indiepop denke, fällt mir immer zuerst die Gruppe "Spearmint" ein. Nach 2 Rezensionen hier komplett vergessen. Das Album "The Candle Is For You" aus 2023, knüpft an das hervorragende "A Different Lifetime" von 2001 an. Habe die mal für 4 Euro im Januar 2007 in der Bastion Bochum live gesehen. War ein tolles Event!

https://wiaiwya.bandcamp.com/album/this-candle-is-for-you

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