Idles - Tangk

Partisan / PIAS / Rough Trade
VÖ: 16.02.2024
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Wo die Liebe hinfällt

Es geht um Liebe! "Love is the fing", war von Anfang an das laute Motto für das fünfte Album von Idles. Fast 30 mal kommt allein das Wort "love" selbst in den elf Songs vor. Wer jetzt allerdings eine Herzchenaugenemoji gewordene Kuschelrockplatte erwartet, hat wohl nie ein Album der Briten gehört. Denn natürlich sind die Sachen, die man emotional mit sich trägt, nicht alle derselben Natur. Und dass das Album von Bandgitarrist Mark Bowen zusammen mit Kenny Beats, mit dem man für den Vorgänger "Crawler" schon für einen Grammy nominiert war, und zusätzlich von Nigel Godrich (Radiohead, The Smile, Beck) produziert wurde, macht mindestens Musikenthusiasten dann doch Herzchen in die Augen.

Der Begrüßungskuss reißt dementsprechend fast schon erwartungsgemäß jede Befürchtung ein. "These are the things you lost in the fire", raunt Frontmann Joe Talbot im nüchtern betitelten "Idea 1" über Drumpad und ein wenig Klavier, während man sich fragt, ob es in einem zerrütteten Haushalt auch Liebe geben kann. Und auch die aggressive Bassline und Gitarrenschläge in "Gift horse" klingen erst mal so gar nicht lieb, während Talbot durch Wortwiederholungen einen Galopprhythmus zu simulieren scheint. Ein Schelm, wer sich fragt, ob er nun selbst der Hengst ist, auf dem die von ihm gekrönte Königin reitet. Hier sind Idles genau das, wofür man sie kennt und liebt. "Pop pop pop" schmeißt dann den Drumloop wieder für einen angenehmen Meditationsmoment an. Und man lernt das pseudodeutsche Wort "Freudenfreude" kennen, das The New York Times vor ein paar Jahren als Gegenentwurf zur Schadenfreude erschaffen hat. "Roy" befreit sich aus der Hypnose und wärmt mit einer House-of-the-Rising-Sun-Melodie in der Bridge schon mal die Tanzschuhe auf. Auch wenn "A gospel" sie noch mal traurig zur Seite stellt und zu nicht viel mehr als ein paar Klaviertasten und winzigen Glockenklängen eine Beziehung beendet, bevor es weitergehen kann.

Alles Vorbereitung auf die große Freudenfreude-Explosion in der man sich in Form der Single "Dancer" mit LCD Soundsystem in einer Schweißwelle auf der Tanzfläche paart. Gleichzeitig aber nicht nur ein Song über Zweisamkeit, sondern über die Tausendkeit und Idles’ Verbindung zu ihren hingebungsvollen Fans und ihrer gemeinsamen energiegeladenen Konzerten: "I give myself to you / As long as you move / On the floor [...] I’m a dancer / You’re a dancer / Let’s dance." Die ständigen Wechsel zwischen leise und laut sollten das Album zerbrechen, stattdessen schlagen die Songs wie Wellen nur immer kräftiger nach dem Rückzug gegen die Brandung. "Dancer" ist ein Triumph auf ganzer Linie und mit seinen disharmonischen Strophen, die sich im Refrain in pure Ekstase verwandeln, prädestiniert, ab jetzt auf jedem Konzert ein Highlight zu sein.

Wenn Idles direkt im Anschluss in "Grace" mutig genug sind, um nach Radiohead zu klingen, dann wird hier die Symbiose aus der Direktheit von Sänger Talbots Texten, Bowens Experimentierfreudigkeit, Kenny Beats Lässigkeit und Goodrichs Erfahrung spürbar. Wer hätte beim Debütalbum "Brutalism" schon gedacht, dass sich die Band aus Bristol ausgerechnet hierhin entwickelt, immer noch neue, geniale Ideen hat und sich trotzdem treu bleibt: "No god, no king / I said love is the thing." Die hektischen Riffs von "Hall and Oates" bringen dann noch eine fette 2024er-Version der Kinks ins Jetzt und haben selbst Musik in den Ohren, weil sie so verliebt sind. Und auch die Absolution wartet in "Jungle", das nicht nur bedrohliche Kulissen auffährt, sondern Gewalt und Missbrauch beschreibt, bevor es gerettet werden kann. Die Verabschiedung findet im gar nicht so gewaltigen "Monolith" statt. Ein Ticken zieht sich durch den Song, als ob die Zeit abläuft, während Talbot fast summend die nötigsten Nachrichten an die übergibt, die zurückbleiben. Die ruhige Klangcollage läuft aus, bevor ganz am Ende überraschend ein Saxophon ein Album beschließt, bei dem man auf dem Weg komplett vergisst, dass alles Liebe sein soll, weil es auch so laut und bedrohlich ist. Aber immerhin schießt Amor auch mit Pfeilen und nicht mit Zuckerstangen.

(Arne Lehrke)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Gift horse
  • Dancer
  • Grace

Tracklist

  1. Idea 01
  2. Gift horse
  3. Pop pop pop
  4. Roy
  5. A gospel
  6. Dancer
  7. Grace
  8. Hall & Oates
  9. Jungle
  10. Gratitude
  11. Monolith
Gesamtspielzeit: 40:12 min

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foe

2024-03-15 13:36:54

Sehr gutes Konzert gestern Abend in Zürich. Ich habe die Band zuletzt auf der Joy-Tour in einer sehr viel kleineren Location gesehen und mich schon gefragt, ob sie in grösseren Hallen bestehen können oder nicht. Die Sorgen waren aber völlig unbegründet. Druckvoller Sound und (wie erwartet) wieder eine enorme Präsenz. Ein über zweistündiges Set und bereits bei 'Colossus' mit einer „Wall of death“ - dem Publikum wurde also gleich von Beginn an klargemacht, was es zu erwarten hat. Und so war es dann auch. Schön, dass Songs aus allen Alben gespielt wurden. 'Car Crash' war fantastisch.

Setlist
- IDEA 01
- Colossus
- Gift Horse
- Mr. Motivator
- Mother
- Car Crash
- I'm Scum
- 1049 Gotho
- The Wheel
- Jungle
- The Beachland Ballroom
- Gratitude
- Divide And Conquer
- POP POP POP
- Television
- Roy
- Samaritans
- Grace
- Crawl!
- A Hymn
- War
- Never Fight A Man With A Perm
- Dancer
- Danny Nedelko (with Arthur from audience on drums)
- Rottweiler

Glufke

2024-03-01 21:26:10

@Master will dir das auf keinen Fall vermiesen! Ich würde auch zu einem Konzert gehen, Köln ist leider ausverkauft, kann an dem Tag aber eh nicht. Das sind halt nur unnötige, einseitige Kommentare, die ich nicht beklatschen würde. Ein Freund von mir hat Karten für Rammstein, da würde ich definitiv NICHT mitgehen.

MasterOfDisaster69

2024-03-01 21:14:48

ok, ich fand die Ansagen auch eher sagen wir mal unnoetig, aber das Konzert und diese 100% Hingabe seitens aller Bandmitglieder lasse ich mir dadurch nicht vermiesen. Talbot war eh sehr gespraechig, "spreading love everywhere", erstes "richtiges" Konzert der neuen Tour, und wenn er ueber Dankbarkeit ggü. den Konzertbesuchern/Fans sinniert, nimmt man ihm das wirklich ab, winkt in jeden letzten Winkel der vollbesetzten Halle. Sicher stimmt hier irgendwie auch "frueher war alles besser", da gerade Bands wie Idles besser in kleine Venues passen, wo die fast schon intime emotionale Verbindung zu den Fans viel besser funktionierte, aber sie sind mittlerweile gross geworden die Idles.
Ein Idles Konzert bleibt weiterhin ein Live-Ereignis der besonderen Art.

Eiersalat

2024-03-01 20:54:59

Eben.

Glufke

2024-03-01 20:30:55

Bin komplett bei dir OMalley. Hab vorhin mal ein bisschen recherchiert und anscheinend haben Bob Vylan die Idles und die Sleaford Mods dafür kritisiert, dass sie sich nicht klar Pro Palästina positioniert haben. Anscheinend haben sie sich der Kritik angenommen. Diese Schwarz-Weiß-Malerei hat diese Band aber nicht nötig. Idles ticken doch von ihrer Einstellung sicher so, dass sie gegen jeden Nationalismus sind. Warum dann kein "we stand with the civilists in Gaza and everyone who suffers from war"?

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