
Marika Hackman - Big sigh
Chrysalis / CargoVÖ: 12.01.2024
Kernschmelze
Es ist keine Selbstverständlichkeit, mit damals nicht einmal 30 Jahren künstlerisch schon so viel von sich preisgegeben zu haben wie Marika Hackman. Nachdem "We slept at last" die junge Britin als introvertierte Folkerin vorstellte, packte sie plötzlich die Grunge-Gitarren aus, nur um im Anschluss auf "Any human friend" mit synthverstärkten Pop-Hooks lesbische Lust zu feiern. Ihr viertes Album "Big sigh", dessen Titel sich nicht ohne Verbindungslinie zum quälenden Entstehungsprozess lesen lässt, bündelt nun alle von Hackmans Identitäten. Unter orchestraler Beihilfe pendelt sie zwischen Reduktion und Ausbruch und kehrt dabei ihr Innerstes nach außen, was angesichts ihrer lyrischen Vorliebe für Körperausscheidungen teils auch wörtlich zu verstehen ist. Um daher die von Kollege Müller für "I'm not your man" herausgestellten Leitthemen zu aktualisieren, vier Aspekte, die bei Marika Hackman im Jahr 2024 eine Rolle spielen: Eis, Blut, Embryos und Radiohead.
An der Platte mitgemischt hat nämlich Sam Petts-Davies, der unter anderem für Thom Yorke an den Reglern saß – und möglicherweise dazu beiträgt, dass sich die Eröffnungsminiatur "The ground" mit entmenschlichender Stimmverzerrung und wie Tränen tropfendem Piano irgendwo zwischen "Kid A" und "Daydreaming" platziert. "Make a herbal tea / Don't throw up / Remember how to breathe / Maybe try to fuck", instruiert sich Hackmans nun unentstellter Gesang in "No caffeine", setzt den von einer destruktiven Beziehung ausgelösten Panikattacken die irre mitreißende Wucht eines Schepper-Beats samt Streicher-Artillerie entgegen. Ob der Einkaufswagen auf dem gezeichneten Cover den Stress symbolisieren soll, den das aus einer "kreativen Dürreperiode" geborene Album verursacht hat, ist nicht bekannt. Was wir nach zwei Songs sicher wissen: dass das fertige Werk so flutscht, als hätte Hackman nie auf dem Trockenen gesessen.
Abgesehen von den Streichern und Bläsern hat die 31-Jährige jedes Instrument auf "Big sigh" selbst eingespielt – dass der über The-Cure-Gitarren seufzende Titeltrack in Refrain und Finale dennoch eine Power wie zehn Begleitbands entwickelt, überrascht weniger, als es sollte. Hackman ist ganz bei sich, beschützt zu Akustikakkorden und atmosphärischen Synths ihr "Blood" vor metaphorischen Vampiren und will in "Hanging" verhindern, dass das lyrische Du ihr Herz in einen steinernen Embryo verwandelt. Trotz des herausgeschrienen Dammbruchs am Ende des letztgenannten verkörpern beide Stücke ein auffallend zurückgenommenes Albumzentrum. Das fast vollelektronische "Vitamins" beendet diesen Akt mit einem Mini-Rave – der trotz Arpeggio übrigens nicht wie "The rip" klingt, lieber Promotext – und schockfrostet den musikalischen Fluss auf eine Weise, dass es ohne intensiven Schmelzprozess gar nicht weitergehen könnte.
Dieser Mission kommt "Slime" mehr als gewissenhaft nach, wenn es mit eindeutigen Zeilen à la "I want your head above mine" einen ordentlichen Schwall heißes Wasser einschüttet. Das ironisch betitelte "Please don't be so kind" brodelt vor einem durch Bläser-Einwirkung heilig aufgeladenen Zorn, während die Frustrierte eine erneut fleischlich-plastische Bildsprache findet: "So you cut me up / And the lines went red / I didn't want you then." Hackman vergleicht ihr kreatives Schaffen mit der Bearbeitung eines Eisblocks, bei dem man vorsichtig Schicht um Schicht weghackt, aber auch nicht zu zögerlich vorgehen darf, damit er nicht wieder einfriert. Spätestens, wenn "The yellow mile" vor einer minimalistischen melodischen Schönheit erstrahlt, die ein Sufjan Stevens nicht wundersamer aus den Saiten gestreichelt hätte, wird klar, dass die Eishauerin die Balance gefunden und den goldenen Kern in der Mitte des Klotzes freigelegt hat. "Show me the bones that we buried outside", fordert das mehrstimmige Schlussmantra, dabei hat Marika Hackman wieder einmal alles von sich ausgebuddelt.
Highlights & Tracklist
Highlights
- No caffeine
- Big sigh
- Please don't be so kind
- The yellow mile
Tracklist
- The ground
- No caffeine
- Big sigh
- Blood
- Hanging
- The lonely house
- Vitamins
- Slime
- Please don't be so kind
- The yellow mile
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Unangemeldeter
2024-07-22 16:52:16
Naja, oder du hast nen schlechten Abend erwischt - sind halt doch Menschen auf der Bühne und man kann vielleicht nicht jeden Abend den großen Stage Banter aus sich rauskitzeln. Zu dieser Tour hab ich's leider nicht geschafft, aber meine vergangenen Konzerte waren super, mit enorm guter Stimmung.
keeeyt
2024-07-22 14:21:51
War in Köln und fand es insgesamt sehr langweilig. Alles kam einstudiert rüber und runtergespielt. Ist keine Atmosphäre entstanden. Die Musikqualität war ansich gut und gab nichts zu bemängeln. Aber sie hat kaum geredet oder versucht mit dem Publikum Kontakt aufzunehmen. Vielleicht ist das so wenn man mit anderen Musikern auf Tour geht .. es ist ja keine richtige Band oderso. Hoffe bei Angie McMahon im September ist das anders.
Klaus
2024-07-22 14:18:51
Empfand ich anders. Das Konzert im Frühjahr in Berlin war doch ziemlich "wholesome" - und ich kannte vorher keinen Song.
keeeyt
2024-07-22 14:12:50
Live leider nicht gut. Bringt zero feeling oder Entertainment rüber.
Grizzly Adams
2024-07-18 20:38:39
War zu Beginn des Jahres gleich ein Highlight. Einige Songs sind es immer noch.
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