
Mandy, Indiana - I've seen a way
Fire Talk / BertusVÖ: 19.05.2023
Die durch die Höhle gehen
Achtung: Jetzt wird's global. Oder globalisiert? Wenn ja, hieße das im Grunde, dass es überall auf der Erde gleich scheiße aussieht. Und das kann dieser Tage gut sein. Mandy, Indiana operieren jedenfalls – meist ohne Betäubung – von mehreren Ecken der Welt aus: Gegründet hat sich das Quartett in Manchester, wo die gebürtige Pariserin Valentine Caulfield und Gitarrist Scott Fair in eher öden Indie-Bands spielten, ehe Caulfield ihren Wohnsitz zwischenzeitlich nach Berlin verlegte und Mandy, Indiana bald einen Vertrag beim Brooklyner Renommier-Label Fire Talk ergatterten. Schnell noch den Ortsnamen Gary, Indiana in etwas Wohlklingenderes umgemodelt – schon passte alles zusammen. Beziehungsweise gar nichts mehr. Und so soll es sein. So einfach ist das nun mal nicht mit Mandy, Indiana. Doch genau das macht ihr Debüt "I've seen a way" so ekelig großartig.
Dabei könnte alles so schön sein. Wie im Synth-wavigen Opener "Love theme (4K VHS)", der mehrere "Blade runner"-Soundtracks auf einmal einsammelt und den delikaten Widerspruch dieses Albums einfängt: messerscharfe Auflösung versus analoges Rauschen. Aber die Liebe? Vergiss es! Zumindest, wenn Caulfield in "Drag [Crashed]" die sexistischen Äußerungen rekapituliert, die ihr seit frühester Jugend aufoktroyiert wurden – von "Zieh Dir mal was Richtiges an, Du verdrehst den Jungs nur den Kopf" über "Lächle, das sieht hübscher aus" bis hin zu "Von der Kleinen kann man später gut Junge ziehen". Auch das ist scheiße und ekelig – in untypisch hartem Französisch hingekeift sogar noch eine Spur mehr. Adäquat aufgebracht kreischen die Percussions, holzfällert die Gitarre und pumpen die oft digitalen Beats. Ein herrlicher Horror von einem Song.
Was "I've seen a way" jedoch nicht zu einer feministischen Truppenbesichtigung macht, sondern zu einem zutiefst humanistischen Stück Krawall mit düsterer Prognose, das Noise-Rock, groben Techno und Ansätze von Post-Punk noch kompromissloser verschweißt als die nicht unähnliche Gilla Band – folgerichtig sitzt deren Drummer Daniel Fox am Mischpult neben Robin Stewart von Giant Swan, Spezialist für die elektronische Höllenfahrt durch kaputte Welten. Aber auch Caulfield wird immer gnadenloser: Zum kolossalen Lärm-Groover "Pinking shears" kotzt sie sich angewidert über Kapitalismus, sogenannte Migrationspolitik und Menschenverachtung aus, bis im dicken Elektro-Rock-Bums "Injury detail" lediglich Befehle im Stil eines Egoshooters übrig bleiben: linker Haken, rechter Haken, Feind vernichten, alles ist erlaubt. Mit diesem Punch ein todsicheres Unterfangen.
Immerhin amüsantes Detail: Der Vierer nahm einige Tracks in einer kommerziell genutzten Höhle auf und versetzte Yoga-Gruppen oder Taucher so in Angst und Schrecken. Caulfields Klassenkampf-Märchen "2 stripe" schwelt böse, erzählt aber auch ein hoffnungsfrohes Gleichnis über den Aufstand geschundener Diener gegen die grausame Herrschaft. Merke: "C'est pas une révolte, c'est une révolution!" – und die Band drückt alles mit dem rasant morphenden Industrial-Rave "Peach fuzz" eisenhart gegen die Wand. "Sensitivity training"? Ohnehin längst zwecklos, nachdem der Mensch gründlich verkackt hat und sich die Natur auf dem extrem strukturierten Cover ihr Territorium zurückerobert. Wasser kommt, Wasser bleibt. Wie das brüllende Echo eines überragenden Albums, an das man sich erinnern wird, wenn die Zivilisation bald in Fetzen hängt. Und zwar global.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Drag [Crashed]
- Pinking shears
- Injury detail
- Peach fuzz
Tracklist
- Love theme (4K VHS)
- Drag [Crashed]
- Pinking shears
- Injury detail
- Mosaick
- The driving rain (18)
- 2 stripe
- Iron maiden
- Peach fuzz
- Crystal aura redux
- Sensitivity training
Im Forum kommentieren
Kai
2024-01-11 23:40:13
Spielen am 01.03. im Jaki Köln
saihttam
2024-01-10 00:00:37
Weil es den Rezensenten dermaßen begeistert hat vielleicht?
Herr
2024-01-09 09:06:11
Sehr spannend & beeindrückend. Für den fortgeschrittenen Hörer. Man müsste jetzt aber dennoch überlegen, warum genau dieses Album eine 9/10 bekommt.
saihttam
2024-01-09 00:21:00
Habs gerade noch mal gehört. Das hat schon sehr viele geile Sounds und einen guten Sog. Iron Maiden dreht einem wirklich einmal den Magen um. Der distanzierte Gesang passt auch sehr gut. Ich finde aber dennoch manche Songs noch etwas unausgegoren und glaube, dass da in Zukunft noch mehr drin ist.
Wem das hier gefällt, der*die sollte übrigens auch mal in Dogsbody von Model/Actriz reinhören. Sehr ähnlich gelagertes Album.
myx
2024-01-08 08:53:11
Hatte die Band beim Maifeld Derby tatsächlich nicht auf dem Schirm, glaube aber sofort, dass es ein richtig geiles Konzert war. Gestern das Album gleich noch ein zweites Mal gestartet, hat einen hohen Suchtfaktor, das Ding. ;)
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- Mandy, Indiana - I've seen a way (13 Beiträge / Letzter am 11.01.2024 - 23:40 Uhr)