Italia 90 - Living human treasure

Brace Yourself / Rough Trade
VÖ: 20.01.2023
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10
8/10

Jedem sein Trauma

Italia 90 ist eine politische Band. Eine für sie besonders prägende Songtextzeile lautet zum Beispiel: "I don't pay rent and I don't pay bills / 'Cos I spent all my money on the Holsten Pils." Aber vielleicht müssen wir hier anders ansetzen. Etwa beim Bandnamen, der gar nicht so unbritisch ist, wie es den Anschein hat: 1990 war nämlich das Jahr, in dem das englische Nationalteam nach langer Durststrecke eine tolle WM spielte und erst im Halbfinale ausschied – nach Elfmeterschießen (war ja klar) gegen Deutschland (inzwischen gar nicht mehr klar). Selbst der eisenharte Paul Gascoigne durfte auf einmal heulen wie ein Schlosshund, und England war stolz auf sein Team – kein unwesentlicher Indikator nationaler Befindlichkeit. Jedem sein Sommermärchen, jedem sein Trauma. Die aktuellsten heißen Brexit und COVID-19 und sind bei Italia 90 beide präsent.

Ersteres in der mehr oder weniger akkuraten Genrebeschreibung "Post Brexit New Wave", die ab 2020 auf der Insel Post-Punk abzulösen begann, Zweiteres, weil das seit 2015 existierende Quartett sein erstes Album ohne pandemische Wirren sicher zügiger auf die Kette bekommen hätte. Und dennoch schießen Italia 90, die es irgendwann aus dem heimischen Brighton nach London zog, mit "Living human treasure" zielsicher den Vogel ab. Äußerst geistreich und ausgesucht störrisch spuckt Frontmann Les Miserable seine Beobachtungen über verfehlte Politik, prekäre Arbeitsbedingungen oder Phrasen dreschende Musikerkollegen um sich, Unusual Prices stellt seine Gitarre entweder auf Noise aus der Magengrube oder verbogenes Riffing mit dem Winkelschleifer, während die Rhythmusgruppe J Dangerous und Bobby Portrait nur die tightesten Grooves ausschwitzt.

Alberne Namen? Geschenkt. Vor allem, wenn sich Drummer und Bassist gerade zu Beginn hervortun und "Leisure activities" aus allen Rohren ächzen und pumpen lassen, bevor die Gitarre den Rhythmus-Track der Länge nach zerteilt. Italia 90 ziehen die Dinge nun mal gerne auf links, wenn man am wenigsten damit rechnet. Endet ein Song hier so, wie er begonnen hat, stimmt irgendetwas nicht. Doch halb so schlimm, solange es sich um das ausgedehnte Shoegaze-Schaben "Competition" handelt, das die Band seit Gründung im Repertoire führt und das mit Zeilen wie "Freedom to choose, freedom to lose" soziale Sollbruchstellen beklagt. Oder um das sehnige Uptempo von "Tales from beyond", das sämtlichen Heuchlern an den Karren fährt. "Your selfish opportunism and corrosive self-interest / As you advocate universal human rights." Zwei Oberknüller unter vielen.

Genauso auf dem Schirm haben Italia 90 die Post-Punk-Verwilderungen zeitgenössischer Kollegen, sodass "Magdalene" oder "Golgotha" angejazzte Black-Midi-Spielchen treiben, aber auch immer einer Lärm-Eruption harren. Streitbare wie unwägbare Altvordere wie Crass oder The Clash? Für den Vierer ohnehin ein maßgeblicher Einfluss, wenn das schon von 2018 stammende "New factory" gegen den Kapitalismus wettert oder sich das aktuellere "Funny bones" durch das Brodeln abgehängter Gesellschaftsschichten punkrockt: "He said I may not have a heart / But you make my brain beat faster." Erst recht im fantastischen Closer "Harmony", der sich erst als Glam-Rocker einsortieren will und auf den letzten Metern doch ein tosendes Pöbel-Finale abbrennt. Eine Goldgrube von einem Album – wenn nicht menschlich, so doch musikalisch. Und politisch natürlich. Prost.

(Thomas Pilgrim)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Leisure activities
  • Competition
  • Tales from beyond
  • Harmony

Tracklist

  1. Cut
  2. Leisure activities
  3. Magdalene
  4. Competition
  5. New factory
  6. The Mumsnet mambo
  7. Funny bones
  8. Golgotha
  9. Does he dream?
  10. Tales from beyond
  11. Harmony
Gesamtspielzeit: 44:07 min

Im Forum kommentieren

Eiersalat

2024-01-11 23:38:43

*um interessant zu bleiben

Gibt's hier keine Bearbeitungsfunktion? Lahm.

Eiersalat

2024-01-11 23:35:58

Kann da irgendwie keine 8 raushören, alles schon mal da gewesen, zu gleichförmig, zu wenig Chaos bzw. Experiment, um zu interessant. Die Cockney-Stimme ist auch immer die gleiche Gelangweilte. Auf Albumlänge schlaf ich dazu ein. 6/10 maximal

Sloppy-Ray Hasselhoff

2024-01-04 23:08:05

unbedingt rein in die vergessenen perlen.

Der Wanderjunge Fridolin

2024-01-04 22:45:30

Hatte sie zuletzt 1x durchlaufen. War gut. Teilweise recht traditionell, dann auch wieder schräg. Schöner Bandname auch.

Armin

2024-01-04 21:43:24- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

"Vergessene Perle 2023".

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