Cat Power - Cat Power sings Dylan: The 1966 Royal Albert Hall concert

Domino / GoodToGo
VÖ: 10.11.2023
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Professorin der Dylanologie

Spätestens seit der Verleihung des Literaturnobelpreises 2016 ist die wissenschaftliche Disziplin der Dylanologie kein bloßer Scherz mehr, der allzu interpretationsfreudige Anhänger des Songpoeten aufs Korn nehmen will. Ihm an den Lippen hängende Menschen dürften eine vertraute Erfahrung für His Bobness in den vergangenen mehr als sechs Jahrzehnten sein – eine, die zugleich stets mit ein wenig Unbehagen versehen ist. Nach Wochen des Zauderns und Schweigens ließ sich Dylan auf der Zeremonie von Patti Smith vertreten und sandte damit eine Botschaft aus, die sich ebenso in seinen Live-Konzerten niederschlägt: Meine Songs wirken als amorphe, wandelbare Gebilde, können nicht einfach zu Paketen verschnürt werden, auf denen fett die Autorschaft prangt. Außerdem gehören sie in bester Tradition des Great American Songbook denen, die sie singen. Hier kommt Charlyn Marshall ins Spiel, die als Cat Power nun bereits auf drei Alben die Lust an der Neugestaltung und Anverwandlung vorgefundenen Liedguts zelebriert hat. Dabei bildet Dylan stets eine Art Nordstern, was sich unter anderem in ihrer famosen Version von "Stuck inside of Mobile with the Memphis blues again" zeigt, zu finden auf dem Soundtrack des Biopics "I'm not there". Nun hat Marshall, zur Hälfte solo, zur Hälfte mit Band, Dylans berühmtestes wie notorischstes Konzert in Gänze live nachgespielt: ein vielleicht absurd anmutendes Unterfangen, das jedoch völlig aufgeht.

Kurzer Kontext: Als Dylan 1966 eben nicht in der Royal Albert Hall, wie es Bootlegs über Dekaden falsch notierten, sondern in der Free Trade Hall zu Manchester auftrat, konnte seine kulturelle Einflusssphäre kaum überschätzt werden. Also riskierte er ganz offensiv seinen Ikonenstatus, griff nach engem Austausch mit den Beatles zur elektrischen Gitarre, rockte drauflos und stieß all jene vor den Kopf, die in ihn weiter den politischen Folk-Barden projizieren wollten. Knapp 60 Jahre später ist das 1998 dann regulär veröffentlichte Konzert längst zu Legende geworden, einer dieser Momente der Rockgeschichte, in denen alles kondensiert: Anspannung, Spielfreude und ein Songwriting, das bis heute Maßstäbe setzt.

Entsprechend der historischen Treue beginnt auch Marshall – nun tatsächlich in London – ihr Set rein akustisch. Ihre Stimme gewinnt bekanntlich an Wärme und Volumen, je älter sie wird; die Versionen bleiben nah an den Vorbildern, kommen höchstens etwas langsamer und getragener daher. Sogar die viszeralen, teils improvisierten, stets berührenden Mundharmonika-Einlagen Dylans hat Marshall übernommen, auch wenn sie nun dezenter durch den lyrischen Vortrag reichen. Und doch drängt sich bald der Eindruck auf, dass die unzählig oft gehörten Songs Dylans abseits ihres Schöpfers hier eine neue Perspektive empfangen: Die surreal-urbane Bilderflut von "Visions of Johanna" bekommt durch Marshalls Timbre eine bluesige, resignierte Qualität, die fragile Zärtlichkeit von "Just like a woman" potenziert sich darin. Kleine Details in den Phrasierungen von "It's all over now, baby blue" und "Desolation row" akzentuieren neu, während Dylans Worte mit vertrauter Eloquenz vorbeiziehen. Und auch die klagende Sehnsucht von "Mr. Tambourine Man" kehrt Marshall wunderbar nach außen, zeigt dabei, dass der darin artikulierte Wunsch nach Entrückung auch einer älteren Stimme gut steht.

In der Folge kommt es anno 1966 zur musikhistorischen Zäsur, als Dylan Mitglieder von The Band auf die Bühne bittet und ein entfesseltes Rock-Feuerwerk abbrennt, das in der Geste beinahe den Punk antizipiert, von Dylans "Play it louder"-Rufen zusätzlich angeheizt wird. Als Marshall ihre Band zum elektrisch verstärkten Blues-Rock von "Tell me momma" begrüßt – übrigens ein Song, den Dylan nie im Studio einspielte, der damit umso mehr mit diesem dramaturgischen Wendepunkt assoziiert ist – wird sie mit tosendem Applaus bedacht: So ändern sich die Zeiten. In der Folge spielen sie und ihre Kollegen sich aufgeräumter und kontemplativer durch den zweiten Teil des Sets. Das Traditional "Baby, let me follow you down" kleidet sich als Jangle-Pop mit Orgelsolo, "Leopard-skin pill-box hat" gerät zum stampfenden Chicago-Blues, den Marshalls Südstaatensozialisation noch erdiger macht. Ihren Höhepunkt erfährt die Dylan-Folklore als ein Zuschauer zu Beginn von "Ballad of a thin man" lautstark den berüchtigten "Judas!"-Vorwurf des Originalkonzerts zitiert. Marshalls Replik? Ein nonchalantes, augenzwinkerndes "Jesus", dann stürzt sie sich unbeirrt in Dylans Horrorvision einer zerfallenden, unbegreiflichen Gesellschaft. Alle Phrasierungen landen im Angesicht existentieller Einsamkeit auf dem Punkt, formulieren so etwas wie die emotionale Klimax der neuen Version, bevor "Like a rolling stone" das vielschichtige Finale stiftet. Im Opener "She belongs to me" hieß es noch: "She's an artist, she don't look back" – eine im Zusammenhang vielleicht irritierende Selbstbeschreibung aus Marshalls Mund. Andererseits blickt sie in der Tat voraus: zur nun erlangten Ehrenprofessur der Dylanologie.

(Viktor Fritzenkötter)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • It's all over now, baby blue
  • Just like a woman
  • Mr. Tambourine Man
  • Leopard-skin pill-box hat
  • Ballad of a thin man

Tracklist

  • CD 1
    1. She belongs to me
    2. 4th time around
    3. Visions of Johanna
    4. It's all over now, baby blue
    5. Desolation row
    6. Just like a woman
    7. Mr. Tambourine Man
  • CD 2
    1. Tell me, momma
    2. I don't believe you (She acts like we never have met)
    3. Baby, let me follow you down
    4. Just like Tom Thumb's blues
    5. Leopard-skin pill-box hat
    6. One too many mornings
    7. Ballad of a thin man
    8. Like a rolling stone
Gesamtspielzeit: 88:34 min

Im Forum kommentieren

Grizzly Adams

2023-12-11 19:06:48

Bin auf jeden Fall bei der Bewertung dabei. Wirklich gutes Album. Hätte es ja selbst noch höher bewertet. Trotz 100% Cover. Sie singt die Dylan-Songs einfach unglaublich schön. Men Anspieltipp ist das aufeinanderfolgende Trio „Just like a Woman“, „Mr. Tambourine Man“ und „Tell me, Momma“. Da bekommt der geneigte Hörer einen guten Eindruck der Aufnahme. Gerade Mr. Tambourine Man hat es mir angetan. Das ist nie besser interpretiert worden. Ich vergebe 9/10 für diese Performance.

Armin

2023-12-09 21:50:56- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

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