Peter Gabriel - i/o
Real World / Virgin / UniversalVÖ: 01.12.2023
Full moon fever
2002. Ein guter Teil unserer Leserschaft war in diesem Jahr noch nicht einmal geboren, deshalb ein kleiner historischer Abriss. Am 1. Januar wird der Euro offizielles Barzahlungsmittel in den teilnehmenden Ländern. Der frühere US-Präsident Jimmy Carter erhält den Friedensnobelpreis für seine Bemühungen um Frieden und Einhaltung der Menschenrechte. Bayer Leverkusen verliert das Finale der Champions League, und Rudi Völler führt die deutsche Nationalelf bis zur Vizeweltmeisterschaft – wobei bis heute niemand wirklich weiß, wie. Eine gewisse Marie N gewinnt den Eurovision Song Contest für Lettland, scheitert jedoch mit dem Titel "I wanna" kommerziell derart krachend, dass der Song bis heute die zweifelhafte Ehre "Erfolglosester ESC-Sieger" innehat. Und am 23. September veröffentlicht Peter Gabriel sein Studioalbum "Up".
Was damals noch niemand wusste: Es sollte für viele Jahre sein letztes bleiben. Für ganze 21 Jahre, um genau zu sein. Dazwischen steht eine derart absurde Aneinanderreihung von Verschiebungen, Planänderungen und nicht immer erfolgreicher Compilations – die Cover-Sammlung "Scratch my back" beispielsweise sorgt bis heute eher für Kopfkratzen –, dass es zwischendurch gar Guns N'Roses gelang, ihr Phantom-Album "Chinese democracy" fertigzustellen. Wenn eine Plattenveröffentlichung also dermaßen viel Zeit benötigt, dann kann man sich direkt etwas Besonderes einfallen lassen, oder? Zumindest drängt sich der Gedanke auf, denn bereits seit Januar 2023 tut Gabriel jeden Monat zu Vollmond – warum auch immer – einen neuen Track des Albums "i/o" raus, das nun mit nach Adam Riese 12 Songs pünktlich zum Jahresende zur Vollendung kommt.
Doch egal, wie lange der Brite nun benötigt hat, egal, welche skurrilen Veröffentlichungswege er beschreitet – wichtig ist nun mal auf'm Plattenteller. Und hier ist direkt wieder die Qual der Wahl angesagt: CD-Käufer erhalten einen Doppel-Tonträger mit gleich zwei Abmischungen, nämlich einem "Bright side mix" und einem "Dark side mix", Freunde des Schwarzen Goldes können die jeweiligen Vinyl-Versionen jeweils separat erwerben, und der solventere Teil der Kundschaft darf gegen Einwurf klingender Münzen die Special Edition mit einem zusätzlichen Dolby-Atmos-Mix sein Eigen nennen. Ist jetzt endlich mal alles geklärt? Prima. Dann darf nämlich endlich "Panopticom" das Album eröffnen, und der wie erwähnt seit Januar bekannte Song begeistert nach wie vor. Sanft umschmeichelt die über die Jahre angeraute Stimme den Refrain, der sich auf eine feine Hook bettet, und lässt trotzdem offen, ob das allumspannende Wissensnetz, welches hier besungen wird, eher Drohung oder Versprechen sein soll: "And we reach across the globe / We got all the information flowing / You face the mother lode / Tentacles around you."
"The court" erinnert in seiner musikalischen Vielschichtigkeit an "Up" und macht deutlich, warum Gabriel auch nach zwei Dekaden wieder mit Schlagzeuger und Percussionist Manu Katché und Bassist Tony Levin zusammenarbeitet. Katché ist, wenn man ihm auf seinen Dutzenden Instrumenten alle Freiheiten lässt, ohnehin das Geld alleine wert, und Levin zeigt mit irrwitzigen Läufen, warum niemand außer ihm dermaßen den Chapman-Stick beherrscht – außer wohl Emmett Chapman selbst. Spätestens beim Titeltrack wird dann klar, worin die tatsächliche Faszination an dieser Platte liegt. Sicher, da ist auf der einen Seite das Albumkonzept, ohne dass "i/o" ein klassisches Konzeptalbum wäre. Doch ein Blick in Gabriels Lyrics lohnt nicht erst seit gestern, lässt immer wieder das Hauptthema "Die Verbindung mit der Welt um uns herum" aufblitzen und fördert dabei erstaunlich positive Tendenzen zutage. Ja, die Welt ist schwieriger geworden, aber hey, irgendwo sind da auch Chancen. Angry old man? Den darf ruhig weiterhin Roger Waters geben.
Dann ist da auf der anderen Seite immer wieder diese unglaubliche Musikalität, sind diese großartigen Arrangements. Natürlich greift Gabriel bei seinen Gastmusikern nur noch ins obere Regal, neben oben erwähntem Stammpersonal sind da vor allem Elektro-Legende Brian Eno und der Soweto Gospel Choir zu nennen. "Road to joy" erhält dabei einen unwiderstehlichen Groove, während "Olive tree" bewusst übertreibt und uns mit einer Welle von Stadion-Pop überspült. Auf der anderen Seite gibt es Balladen wie das feinperlige "Love can heal" oder das ergreifende, Gabriels unlängst verstorbenen Mutter gewidmete "And still", welche die Welt unter dem Kopfhörer förmlich zum Stillstand bringen – bis dann "Live and let live" die Platte mit einem flammenden Plädoyer für Frieden und Toleranz beschließt. Solche Songs, mögen sie auch manchmal fast schon ein wenig naiv anmuten, sind wohltuende Ausrufezeichen in der Empörungskultur. Ein Plädoyer für das Albumformat bleibt "i/o" dennoch. Ja, bis auf das zeitgleich mit dem Album veröffentlichte "Live and let live" mögen die Songs bekannt sein. Aber ihre volle Wucht, die ganze Magie entfalten sie erst in ihrer Kombination. Von einem Alterswerk bleibt Peter Gabriel also auch mit 73 Jahren noch weit entfernt. Bleibt nur zu hoffen, dass er nicht ausprobieren möchte, ob das alles auch noch mit 94 Jahren funktioniert.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Panopticom
- i/o
- Road to joy
- Live and let live
Tracklist
- Panopticom
- The court
- Playing for time
- i/o
- Four kinds of horses
- Road to joy
- So much
- Olive tree
- Love can heal
- This is home
- And still
- Live and let live
Im Forum kommentieren
kingbritt
2024-01-17 17:25:33
Peter Gabriel - i/o (2023) 7/10
Ja, da tue ich mich irgendwie schwer. Gabriel 2023.
Habe mir heute bei der Gitarrenpflege mal beide Alben-mixes hintereinander angehört.
Erst den "Bright side mix" und „Dark side mix", Wobei micht der Dark side mix von der Mache her etwas mehr anspricht, Gesanglich erstaunlich präsent, Gabriel ist 73Jahre. Die Songs, ja, schon okay und soundtechnisch ins 2023 gehievt, aber nachhaltig hängenbleiben bei mir eher nicht wirklich. Vielleicht ist das auch so ein Album das mit der Zeit wächst. Mal sehen.
köttbullar
2024-01-03 10:46:52
Ich fand die VÖ-Strategie fragwürdig. So hat mich der Gesamtkosmos i/o nicht gepackt. Zudem war das Konzert in Köln zwar großartig aber auch etwas schwierig weil man die Komplexität noch nicht verinnerlicht hatte und die Hälfte der neuen Songs nicht kannte. Nun erkennt man das erst alles. Geniales Album. Hoffentlich kommt er 24 nochmal rum.
The MACHINA of God
2023-12-30 16:01:59
Hmm, stimmt. Vielleicht werden da noch mehr physische abgesetzt? Irgendwie suche ich nach einem anderen Grund... kann mir nicht vorstellen, dass die Popularität so ungleich verteilt ist.
Socko
2023-12-30 05:16:48
Ja, aber in den anderen Ländern dieser Welt hat der realease ja offensichtlich die Impulse gegeben
The MACHINA of God
2023-12-29 23:41:00
Aber liegt das nicht auch an der gemächichen Veröffentlichungen? Denn die Downloads und Streams der letzten Monate zählen da ja nicht rein, oder? Denke, da wird der Release nicht mehr so große Impulse geben.
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