
The Mountain Goats - Jenny from Thebes
Merge / CargoVÖ: 27.10.2023
Eine sagenhafte Frau
John Darnielles Lust am Erzählen ist lange verbürgt – die zahlreichen narrativen Vignetten seiner Songs künden ebenso davon wie inzwischen drei publizierte Romane. Viele seiner Geschichten beherbergen Figuren am Rand der Gesellschaft, die ihre unkonventionellen Lebenswege und -entwürfe gegen Armut, Not und den Zynismus derjenigen verteidigen müssen, denen der Status Quo als apodiktisch gilt. Im Laufe der Jahre hat sich so ein beträchtliches Universum voller Querverweise entwickelt, das auf dunklen Highways und in heruntergekommenen Häusern nach Wegen in ein alternatives Amerika sucht, eines mit anderen Prioritäten und ethischen Grundsätzen. Jenny, bekannt aus "All hail West Texas", dem bis heute vielleicht bewegendsten, mit Sicherheit aber einem der beliebtesten Alben unter Darnielles Pseudonym The Mountain Goats, ist einer dieser Charaktere. War Darnielle anno 2002 noch solo mit Akustikgitarre und Kassettenrekorder unterwegs, sind The Mountain Goats derweil längst zu einer waschechten Band gewachsen. Eine hübsche Klaviermelodie, die sich in den Streichern doppelt, leitet "Jenny from Thebes" ein, dann steigern Bläser die Aufbruchsstimmung. Kein Konzeptalbum legten er und seine Mitmusiker vor, stellt Darnielle klar, sondern eine Rock-Oper. Wer nun Bombast und Feuerwerk befürchtet, kann beruhigt durchatmen: "Jenny from Thebes" nickt stellenweise dem Heartland Rock zu, lädt aber so subtil und geerdet zum Roadtrip, wie man es von Darnielle gewohnt ist.
Eine textliche Referenz an die Songs von "All hail West Texas" jagt dabei die nächste, doch aufmerksame Ohren werden auch ohne Kenntnis des thematischen Vorgängers ihre Freude an "Jenny from Thebes" haben. Darnielle hebelt die Chronologie auseinander, lässt diverse Stimmen alternieren und so zentrale Passagen mehrdeutig werden, operiert meist mit kurzen, knackigen Zeilen, die viel Raum für Ellipsen erlauben. Hier die Kurzfassung: Jenny ist eine Art Herbergsmutter für die Versehrten ihrer Heimatstadt, hält den Blick auf das, was andere übersehen: "You're there by the road wet and helpless / What happens if I take you home?" Als ihr Haus eines Tages zwangsgeräumt wird, verlässt sie die Stadt auf einer alten Kawasaki und stiftet somit das zentrale Motiv des Albums: den schmalen Grat zwischen sozialer Verantwortung und individueller Freiheit. Immer stärker verflüchtigt sie sich en route, was einen weiteren Grund hat: Am Anfang des Weges geschieht ein Mord am Bürgermeister, was ausgerechnet im beschwingten, stark an The Weakerthans erinnernden Power-Pop von "Murder at the 18th St. Garage" verhandelt wird. Unklar bleibt, wer die Tat begangen hat – die Indizien verkomplizieren sich, als die Leiche später im Wasserturm auftaucht ("Water tower"). Darnielle gibt schalkhaft aus dem Meta-Off zu Protokoll, er würde einen Eid für seine Figur ablegen: Man glaubt es ihm gerne.
Der gewohnte Hybrid aus Soft-Rock und Indie-Pop mit angenehmen Folk- und Country-Einflüssen grundiert Jennys Reise, mal angereichert von abgehangenen Licks und einem sinnierenden Keyboard ("Ground level"), mal in einer Phase quälender Schlaflosigkeit unterstützt von perkussiven Claps und einem nachdenklichen Saxofonsolo ("Only one way"). Doch wird man den Impuls nicht los, sich auf die Texte des Albums zu konzentrieren, was nicht zuletzt der im Titel angedeutete Anschluss Jennys an die antike Mythenwelt ausspricht. Immer wieder flicht Darnielle markante Bilder ein – "Aging motorcycles purr like cats / When they draw near" aus "Jenny III" stiftet ein Beispiel unter vielen. Bald wird der Schrottplatz in "From the Nebraska plant" zur entscheidenden Metapher, ein Ort, an dem Altes aufgegeben und in anderer Form weiterverwendet wird. "I'll take anything that the others won't / I can see the value where others don't", hört Jenny in einer Radiowerbung auf einem Walmart-Parkplatz, begleitet von melancholischen, mellotronähnlichen Streichern ("Same as cash"). Es wirkt wie ein Emblem für Darnielles eigene Poetik.
Erst der Closer "Greater pirates" gestattet sich einen längeren Instrumentalteil, skizziert eine verwackelte Baratmosphäre, während sich Jennys Spur langsam verliert. Zigarettenrauch folgt ihr, bevor er verweht wird, ebenso die Erinnerung an ihre verblassenden Tattoos: "You may forget the whys and wheres / Of an old tattoo on your forearm there / But usually, you recall the day you got one", heißt es zuvor im bläsergetragenen "Fresh tattoo". Dann braust sie an einem Friedhof vorbei, dem tänzelnden Saxofon gleich, das ihren Weg in einem einminütigen Solo beschließt. Oder vielmehr: fortsetzt. "The names of all the secrets / She held back behind the curtain", wagt Darnielle nämlich nicht ganz zu lüften – und reicht denen, die weitersuchen wollen, ein erzählerisches Puzzle.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Clean slate
- Fresh tattoo
- Same as cash
- Great pirates
Tracklist
- Clean slate
- Ground level
- Only one way
- Fresh tattoo
- Cleaning crew
- Murder at the 18th st. garage
- From the Nebraska plant
- Same as cash
- Water tower
- Jenny III
- Going to Dallas
- Great pirates
Im Forum kommentieren
Armin
2023-11-08 21:58:59- Newsbeitrag
Frisch rezensiert.
Meinungen?
Gordon Fraser
2023-11-02 18:23:25
Ich bin jetzt schon etwas länger Fan, aber bei weitem nicht mit der schier endlosen Diskographie durch. Der Mann veröffentlich einfach zu viel und schreibt nebenbei noch Romane.
Neben all dem bisher genannten ist das "Goths"-Konzeptalbum auch wirklich zu empfehlen.
seno
2023-11-02 10:11:11
Danke. Um es mit Howie Carpendale zu sagen: "Schwar nie wirklisch weg".
Autotomate
2023-11-02 10:01:02
Moin seno, willkommen zu Hause!
gawain
2023-11-02 09:22:35
Hm, das neue Album ist toll, in meinen Ohren deckt es aber nur eine winzige Facette des Schaffens ab.
Zum Einstieg empfehle ich das schon genannte fabelhafte "The Sunset Tree", "All Hail West Texas", "Beat The Champ" und "Heretic Pride" - dann hat man meiner Meinung nach, sofern es bei deren Schaffensdrang überhaupt geht, einen recht guten Überblick.
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