All Diese Gewalt - Alles ist nur Übergang
Glitterhouse / IndigoVÖ: 10.11.2023
Tonnenschwere Leichtigkeit
Dem zuweilen brodelnden Furor seiner Band Die Nerven stellt Frontmann Max Rieger seit einigen Jahren ein nach und nach verfeinertes und inzwischen ganz anders gestricktes Pendant gegenüber. All Diese Gewalt mag vom Namen her kaum weniger intensive Klangkunst erwarten lassen, doch schafft Rieger hier zahlreiche Momente der Intimität und Ruhe. Die Intensität der beiden durchaus weiter auseinanderliegenden Pole unterscheidet sich derweil gar nicht so sehr, denn während bei Die Nerven vor allem der instrumentale Zugriff auf die Hörnerven erfolgt, schleicht sich Rieger im Gewand von All Diese Gewalt deutlich subtiler und insbesondere auf lyrischer Ebene heran. "Alles ist nur Übergang", Studioalbum Nummer vier, markiert einen weiteren Abschnitt auf dem Weg dieses Musikers, der als wahrer Workaholic kaum künstlerische Pausen kennt.
Rieger begibt sich gleich zum Auftakt auf eine Metaebene, kaum greifbar und "transluzent", wie er es nennt. "Ich bin das Licht" sagt er ganz unbescheiden und leuchtet in der Folge einige Abgründe aus. Musikalisch schließt er an das Vorgängeralbum "Andere" an, das durchaus nicht unumstritten war und neben Begeisterung bei den einen auch für Rätselraten bei den anderen sorgte. "Setz alles in Brand", fordert er in "21 Gramm", einem verhaltenen, zuweilen verstörenden Stück, das mit seinen elektronischen Zutaten nicht ganz so leicht zu durchdringen ist. "100 Kilometer über der Erde" hält er sich in "Zu Staub werden" auf, wo ihm "goldene Altäre" entgegenkommen. "Ich habe die Zeit nur ausgeborgt", stellt er nüchtern fest, bevor das Stück nahezu elegisch wird und die letzten Töne sinnbildlich "zu Staub werden".
Im reduzierten "Beleuchtete Höhle" betont Max Rieger erneut: "Ich bin nur Gast auf Erden." Die Töne, die er dazu anschlägt, sind überaus passend: Denn hier wirklich wirkt alles wie im Übergang, wie auf dem Weg zu etwas, was erst noch erkundet werden möchte. Tastend, zögerlich, aber doch mit fester Stimme mäandert er durch den Song, der im letzten Drittel mehr und mehr pulsiert, mehr und mehr buchstäblich aus der Haut fahren möchte. Und war nicht genau das auch ein Faktor, der beim Vorgängeralbum nicht selten kritisch beäugt wurde? Dass bei All Diese Gewalt der zumindest gelegentlich notwendige Furor zu kurz kommt? Auf "Alles ist nur Übergang" geht der Musiker auch einmal entschlossen robust zu Werke. Im zwischenzeitlich fast schon brachialen "Ab ab ab" sägen die Gitarren am Ast, auf dem es sich Max Rieger zwischendrin durchaus mal gemütlich macht. Ein furioser Kontrastpunkt zu den vielen dezenteren Momenten des Albums.
Viel ist vom Gewicht und von der Schwere die Rede auf diesem Album, manchmal auch von Leichtigkeit. "21 Gramm" treffen auf "100.000 Tonnen". "Der Kopf rennt weg / Der Körper, der darf bleiben", heißt es in "So leicht", einem wahrhaft schwerelosen Stück Musik. Alles scheint stets in Bewegung zu sein bei Max Rieger, diesem umtriebigen Künstler. Der sich auf Tour mit Die Nerven verausgabt, im Studio für so unterschiedliche Acts wie Casper, Ilgen-Nur oder Drangsal an den Reglern sitzt und bei All Diese Gewalt ganz bei sich selbst wirkt. Vielleicht ist das seine Wohlfühloase, seine Auszeit vom Rummel. Und inzwischen scheint er sich auch vom Drang nach Perfektion verabschiedet zu haben: "Andere" benötigte Jahre, "Alles ist nur Übergang" hingegen ging nach eigener Auskunft vergleichsweise flott von der Hand. "Wie ein warmer Schwall Erbrochenes", sagte er in einem Interview. Zur Beruhigung: Danach klingt es glücklicherweise gerade nicht.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Ich bin das Licht
- Etwas fehlt
- So leicht
Tracklist
- Ich bin das Licht
- 21 Gramm
- Zu Staub werden
- Beleuchtete Höhle
- Etwas fehlt
- 100.000 Tonnen
- So leicht
- Ab ab ab
- Ihr seid nicht allein
- Alles ist nur Übergang
Im Forum kommentieren
fuzzmyass
2023-12-30 03:54:43
Eines der Alben des Jahres für mich, grandios... was für eine Atmosphäre, tolle Sounds, tolle Songs, viele Mega Highlights, keine schwachen Songs, super Flow, Abwechslung ist auch vorhanden, dazu leicht, schwerelos und knackig... hat für mich absolut das Zeug, um in Reznor'sche Sphären zu verweilen und braucht sich da kaum verstecken - ich liebe diese ganz feinen Reznor Einflüsse...
Max Rieger ist ein fantastischer Künstler, gibt wohl kaum bessere im deutschsprachigen Raum
Lateralis84skleinerBruder
2023-11-22 11:00:35
Im aller aller ersten Moment von „so leicht“ dachte ich, er sampled das Akte-X Theme :D
Obrac
2023-11-22 09:52:26
Ich nähere mich dem Album an. "etwas fehlt" ist Weltklasse. Der Opener auch geil.
The MACHINA of God
2023-11-10 18:10:02
Zweiter Durchgang. Stimmung gefällt mir wieder deutlich mehr als beim Vorgänger. Lustig: "Ab AB ab" fängt an wie "Remurdered" von Mogwai aufhört. :)
Felix H
2023-11-10 17:16:26
Nach dem ersten Durchgang ist klar, dass ein ein Übergangsalbum ist.
Übergang > Opelgang
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