Beirut - Hadsel
Pompeii / CargoVÖ: 10.11.2023
Orgeln im Schnee
Zach Condon war auf Reisen. Diese Aussage trägt einen ähnlichen Neuigkeitswert wie die tägliche Pilzrahmsuppe in der Plattentests.de-Kantine. Doch diesmal begab sich der als Beirut musizierende Mann weniger auf die Suche nach neuen globalen Inspirationen, er wollte sich primär um seine Gesundheit kümmern. Von anhaltenden Halsproblemen geplagt, trieb es ihn bis nach Hadsel: eine Insel im Norden Norwegens, wo er sich in eine einsame Hütte zurückzog. Kontakt hatte er in erster Linie mit einem einheimischen Orgelsammler, der ihm Zugang zu einer lokalen Kirche verschaffte – und plötzlich zuckten die Kreativmuskeln doch wieder. Condon hatte gefühlt schon jedes Instrument der Welt in der Hand, nur eben noch nie eine Kirchenorgel. Also schleppte er ein tragbares Studio-Setup ins sakrale Bauwerk, um die Sensation des Unbekannten gebührend zu feiern und das Fundament für sein sechstes, schnörkellos "Hadsel" genanntes Album zu kloppen.
Hier eine weitere Nicht-Neuigkeit: Der alte Beirut-Sound ist nicht mehr. Geblieben sind natürlich Condons vokale Fernweh-Beschwörungen sowie die ungewöhnlichen, detailreichen Arrangements, doch hat der gebürtige US-Amerikaner schon seit einigen Alben seine Musik merklich entschlackt. "Hadsel" kehrt diese Entwicklung keineswegs um, katalysiert sie sogar: Schließlich hat Condon wie zu seinen zuletzt auf der Raritätensammlung "Artifacts" dokumentierten Teenager-Zeiten die Platte komplett alleine aufgenommen und größtenteils mit Drumcomputern gearbeitet. Und doch übt der ganze Minimalismus seine eigene Faszination aus, die zwölf Songs evozieren majestätische Gletscher und Fjorde und klingen an mancher Stelle fast wie die Beirut-Definition von Ambient. Der eröffnende Titeltrack kommt etwa ganz ohne Percussion aus, hookt aber sofort mit der rhythmisch gespielten Orgel und den endlosen Weiten, die sich zwischen Stimmbändern und Bläsern aufspannen.
Condons Zauberei an Trompete und Waldhorn hebt auch "Arctic forest" weit über die Baumwipfel empor, dessen Geklopfe und Gerassel entgegen seines Titels dezent tropisch anmuten. Das Fehlen einer Band macht sich hier kaum bemerkbar, der Wuschelkopf aus New Mexico füllt mit seinen Solo-Chorälen und feinfühlig zusammengeschichteten Instrumentenspuren jede Ecke des Raumes aus. Es mag keine Hits, keine großen schwungvollen Hymnen mehr geben, dafür aber immer noch einen sprudelnden Quell wundervoller Melodien und solche Momente wie in "Island life": Nach zartem Ukulele-Beginn transzendiert das Stück in eine kontemplative Schönheit, bei der die akustischen Landschaftsmaler von Sigur Rós nicht nut geografisch greifbar erscheinen. "Hadsel" erweckt oft den paradoxen Eindruck eines wärmenden Erstarrtseins, als würde man sich dick in eine Heizdecke eingekuschelt einschneien lassen.
Die Texte bleiben der Musik entsprechend reduziert und interpretationsoffen, nur zuweilen bilden sich klarer konturierte Eiskristalle. "We had so many friends / This had to end, they had to end", klagt Condon in "So many plans" und manifestiert diese erste Single damit als Trauerlied. Ein Song namens "Süddeutsches Ton-Bild-Studio" verweist indes vielleicht darauf, dass der Wahlberliner das Album zuhause fertiggestellt hat – dem Schwabenanteil nach zu urteilen, liegt die deutsche Hauptstadt ja quasi in Baden-Württemberg –, und überrascht auch mit zweieinhalb Minuten Freispiel auf der Synth-Wolkenmaschine. "The tern" entwickelt kurz vor Schluss inklusive Tribal-Trommeln wieder etwas mehr Drive, ehe das finale "Regulatory" nicht zum ersten Mal in der Beirut-Diskografie wie eine Ode an das Ankommen klingt. Eine Finte, natürlich – oder glaubt irgendwer, dass Zach Condon nach seiner nordnorwegischen Orgel-Entdeckung nie wieder den Globus drehen wird?
Highlights & Tracklist
Highlights
- Hadsel
- Arctic forest
- Island life
Tracklist
- Hadsel
- Arctic forest
- Baion
- So many plans
- Melbu
- Stokmarknes
- Island life
- Spillhaugen
- January 18th
- Süddeutsches Ton-Bild-Studio
- The tern
- Regulatory
Im Forum kommentieren
NeoMath
2023-11-11 09:41:47
Aus meiner Sicht ein wunderschönes, äußerst stimmungsgeladenes Album. Insgesamt sehr angenehm zurückgenommen.
Selbst, wenn alles rund und stimmig ist, eine kleine Sehnsucht bleibt dennoch in mir unerfüllt: Ich habe mir mehr von Menschenhand eingespielte Rhythmen gewünscht, so wie Zac es früher gehandhabt hat. Das wäre für mich das I-Tüpfelchen gewesen.
Aber auch so: Wundervolles Album!
smrr
2023-11-09 09:08:46
Erste Hälfte ist super, aber natürlich nichts Neues (bis auf den Sequenzerkram). Die zweite Hälfte hingegen fällt meiner Meinung nach deutlich ab und hat eigentlich kein Highlight mehr zu bieten.
Armin
2023-11-08 21:57:39- Newsbeitrag
Frisch rezensiert.
Meinungen?
Deaf
2023-10-11 16:10:48
Condon’s first shows since the 2019 tour behind Gallipoli will take place February 16 and 17, 2024, at Berlin’s Tempodrom. They’re the only shows he plans to perform in support of the album.
Schade, dass es offenbar nicht mehr Shows gibt.
Hier stand Ihre Werbung
2023-09-05 04:39:16
Kommt drauf an, was Oli P. im November so raushaut.
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