
Corinne Bailey Rae - Black rainbows
Black Rainbows / MembranVÖ: 15.09.2023
Bildersturm
"Girl, put your records on / Tell me your favourite song" – die Älteren werden nun zu summen beginnen. Kaum ist der Sommer vorbei, ersteht er in der Erinnerung als unbeschwertes Idyll neu auf. Freundlicher Soul-Pop brachte Corinne Bailey Rae einst auf die musikalische Landkarte und bescherte ihr 2006 den eingangs zitierten Radio-Hit. Im dazugehörigen Video radelte die Frau aus Leeds singend durch sonnenbesprenkelte Alleen, leichten Herzens und flankiert von zahlreichen glücklichen Gesichtern. Nicht allzu bekannt dürfte den meisten damals ein anderer Eckpfeiler aus Bailey Raes musikalischer Sozialisation gewesen sein. Schon als Teenagerin sang sie in der Indie- und Grunge-Band Helen, die kurzzeitig bei Roadrunner unter Vertrag war, den Test für harte Gitarren ganz offenbar bestand. Und auch sonst zieht sich eine beinahe schrankenlose Faszination für Ausdrucksformen aller Genres durch die Karriere der Britin, führte sie unter anderem mit Jazz-Legende Herbie Hancock zusammen. Wer etwas tiefer gräbt, sollte also nicht völlig überrascht sein von "Black rainbows", Bailey Raes erst viertem Soloalbum in fast 20 Jahren. Doch muss man keine anschmiegsame Radiomusik erwarten, um während des Hörens verblüfft den Mund nicht mehr zuzubekommen – schon rasch wird deutlich, dass die zehn Songs stets die unerwartete Abfahrt im Blick haben.
Bedrohliches Ambient-Fiepen winkt den Opener heran, Bailey Raes erste Worte "Fingertip to fingertip / Eye to eye" bestaunen eine Verschlungenheit mit dem Gegenüber, wie sie auch Björk registrieren könnte. "A spell, a prayer" wirkt dabei tatsächlich wie eine Beschwörung, zu ihren Mitteln zählen eine hypnotisierende Fuzz-Gitarre, Stimmfetzen und übersteuertes Feedback, die gemeinsam das Retro-Soul-Gebäude dekonstruieren und den Song zerfallen lassen. All das bildet dabei nur den Ausgangspunkt für eine erste Hälfte, die auf die meisten Regeln einer herkömmlichen Albumdramaturgie pfeift. Inspiration hat sich Bailey Rae nach eigenen Aussagen in der Stony Island Arts Bank abgeholt, die in Chicago ein Panorama afroamerikanischer Kunst beheimatet. Atmosphärisch wie thematisch kristallisiert dieser Einfluss rasch, wenn im Titeltrack düstere Electronica zu Fusion aus dem Fegefeuer kulminiert – man denke an Hancock –, durch den zerquälte Saxofone hetzen. "Erasure" poltert mit massiv verzerrten Post-Punk-Gitarren heran, Bailey Rae spuckt ins Megafon und erinnert hier eher an eine Karen O, deren Laszivität von der Geschichte rassistischer Gewalt zerpflückt und deformiert wird. "They tried to acid wash you / And paint you as a picture of patience", shoutet sie und resümiert in der verstörenden Klimax: "The knife was clean / Baby, baby, baby / They fed you to the alligators."
Im Angesicht vorbeischwebender Synthies mutiert Bailey Raes Stimme in "Earthling" vorrübergehend vollends zum Alien. Eine zarte Gitarre gibt jedoch nicht auf, sie auf ihre menschlichen Züge hinzuweisen, bis sich diese langsam als soulig-warme Gesangseinlage aus dem glitchenden Geplucker herausschälen dürfen. Vogelzwitschern und perlende Keyboardläufe laden anschließend zur Atempause. Der stilistische Schleudergang, den "Black rainbows" vor allem bei Erstkontakt bedeutet, lässt auch eine hübsche Liebesballade wie "Red horse" seltsam anmuten und ihren lichten, sehnsüchtig verwaschenen Soul-Pop nach dem vorangegangenen Chaos grell aufleuchten. Allzu gemütlich einrichten soll es sich hier eh niemand – davon kündet auch "He will follow you with his eyes", das eingangs noch zur Akustikgitarre über Schönheitskonventionen schmachtet, bevor Bailey Rae aus einem elektronischem Sumpf in ihrer wahren Pracht auftaucht: "My plum red lipstick / My black hair kinking."
Entblößung gerät auch zum Leitmotiv der Jazz-Ballade "Peach velvet", in der Bailey Raes klarer Gesang nur von einem komplex arrangierten Piano begleitet wird. Dabei imaginiert sie, wie Schriftstellerin Harriet Jacobs aus der Perspektive der Entkommenen ihre weiterhin versklavten Kinder betrachtet und reiht sich ein in die emotionale Wucht von Nina Simone und Billie Holiday. Leichtere Pfade bespielt der launige Garage-Rock von "New York City Transit Queen", der mit Cheerleader-Chören Audrey Smaltz anfeuert, Schönheitskönigin des New Yorker Nahverkehrs von 1954 und von Bailey Rae auf einem Archivfoto entdeckt. Flüchtige Memorabilia konstellieren sich auf "Black rainbows" also neben profunde Tragik, Bailey Raes Ordnungsprinzipien treten hinter das gewaltige Gewimmel des Lebens zurück. Ihre Experimentierfreude verlangt den Mut des Publikums und eine gewisse Offenheit in der Frage, was ein Album überhaupt zu einem Album macht. Dann belohnen nicht zuletzt Texturengewitter wie "Put it down", das verfremdete Streicher auf einen TripHop-Takt montiert, Bailey Rae dann auf einem straighten Club-Beat tanzen und schließlich eine Elektronikwalze alles wegsprudeln lässt. "Wer soll da noch den Überblick behalten?", mögen da manche verzweifelt fragen. "Niemand", antwortet Bailey, und das ist der Punkt. "Black rainbows" gibt es nur im Plural. Als polyphone Geschichtensammlung.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Black rainbows
- Earthlings
- New York Transit Queen
- Put it down
Tracklist
- A spell, a prayer
- Black rainbows
- Erasure
- Earthlings
- Red horse
- New York Transit Queen
- He will follow you with his eyes
- Put it down
- Peach velvet sky
- Before the throne of the invisible god
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Chrisb
2023-10-19 17:05:43
Meine Frau liebt sie.Diese Soul-Pop Sängerin ist schon richtig gut.
Armin
2023-10-18 20:35:39- Newsbeitrag
Frisch rezensiert.
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