Ilgen-Nur - It's all happening

Power Nap / The Orchard
VÖ: 13.10.2023
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Little Lieblingslieder

Der liebe Gott ist ein übler Schelm. Allein schon das Konzept des Ohrwurms ... eine ganz miese Nummer. Zumindest recht oft. Einmal zur falschen Zeit am falschen Ort an einem Bierzelt vorbei geschlappt und im Kopf rotieren Töne und Verse, die man eigentlich verabscheut. Da hilft dann nur eines: überschreiben. Zwar gibt es dafür kein ärztliches Rezept, doch Plattentests.de hilft hier ohne Risiken und Nebenwirkungen. Womit wir dann auch bei Ilgen-Nur wären: Zehn Songs umfasst ihr Zweitling "It's all happening" – und allesamt haben sie das Zeug, böse Song-Geister aus dem Gehörgang zu vertreiben.

Kurzer Recap: Im August 2019 erschien Ilgen-Nurs Debüt "Power nap". Kurz darauf hielt sich die Singer-Songwriterin gerade in den USA auf, als die Pandemie zuschlug. Sie blieb erst einmal dort und verliebte sich in Los Angeles. Nach zwischenzeitlicher Heimkehr bekam sie 2022 ein Stipendium an der Villa Aurora, einer Künstler*innen-Residenz an der Pazifikküste. Aus Verliebtheit wurde Liebe, wenn man es so pathetisch formulieren will. Die Sängerin kaufte sich – sehr passend für eine Exilschwäbin – einen weißen 1988er Benz, fuhr durch die Gegend, hörte Musik und schrieb Tagebuch. Deutschland war in dieser Zeit ganz weit weg für sie. Aus diesem Feeling heraus wurde ihr klar: "It's all happening" muss in L.A. entstehen. Und das hört man dem Album an.

Während "Power nap" noch mehr oder minder klassischen, wenngleich großartigen Indie-Pop lieferte, legt das Zweitwerk zumindest oberflächlich alle Poppigkeit ad acta. Der Sound ist deutlich facettenreicher, lässt Pianolines und Synthflächen das weiterhin wunderbare Gitarrenspiel der 27-Jährigen umgarnen und bietet ihrer vielgestaltigen Stimme ausreichend Platz zur Entfaltung. Die Singer-Songwriterin lässt sich Zeit im Aufbau, nimmt allgemein etwas das Tempo raus und schafft ein von vorne bis hinten durchgängiges Klangbett, dessen Kanten vom Träumerischen bis ins Düstere reichen. Da darf man ruhig an große Namen wie etwa Joni Mitchell oder Karen Dalton denken.

Der Opener "Lookout mountain" ist – fast logischerweise – eine Art Love Letter an L.A. und fungiert sozusagen als Aussichtspunkt für das Album. Die Gitarre duftet prächtig nach Prärie, die Tasten schunkeln, die Percussion versprüht Gemütlichkeit, der Gesang hallt nach. "Purple moon" übernimmt vieles davon und streift sich zeitweise noch einen Verzerrer über. Es entsteht eine großartige Melodie, die im Chorus und in den Bridges wunderschön gipfelt, wenn Ilgen-Nur die Saiten gefällig bimmeln lässt. Auch "Sweet thing", eine Liebeserklärung an ihren Mercedes, bringt trotz leiser Töne eine ungehörige Eingängigkeit mit sich. "All the stars / Stars that rise / Will pass away / Don't look for me / I'll be walking under different trees", singt Ilgen-Nur mit dem Ellenbogen auf dem Fahrzeugfenster und dem Falsett am Anschlag. Als wäre ein Abschied das Normalste der Welt, wenn man auf Reisen ist. Es ist der beste Song einer Platte mit ausschließlich Assen im Ärmel.

In "The unknown" lässt die Singer-Songwriterin erst die Drums anmarschieren, um sie sogleich wieder zurückzurufen und in aller Lockerheit über die Angst vor dem Unbekannten zu parlieren. In völliger Friedlichkeit konstatiert sie: "Nothing scares me more." Als wäre die Furcht längst besiegt. Ihren Weg auf der "Red rock road" untermalt die Sängerin mit wabernden Glockenspielen, Tasten und Saiten. Sie gibt sich lebensmutig: "Nothing holding me back from trying." In "Momentary bliss" zeigt sie sich dagegen aufgewühlt und lässt zunächst umso aufgewühltere Saiten Alarm schlagen, bevor sie sich textlich ihrem Thema widmet: Beobachtungen aus dem Leben in ihrer deutschen Wahlheimat Berlin, wo sich viele Menschen in Lebenslügen und Drogen flüchten. Ein Tröpfchen flüchtiger Glückseligkeit bleibt als letzter Anker.

Zum Ende der Platte formuliert Ilgen-Nur eine große Erkenntnis: "Windows are mirrors / You are the things you want to be." Diese Idee, nach draußen zu sehen und gleichzeitig in sich hinein, hat die Singer-Songwriterin auf "It's all happening" in die Tat umgesetzt und ein formvollendetes Album geschaffen, das Außen- und Innensicht genauso wie Extro- und Introversion auf einen Nenner bringt. "Windows are mirrors" ist der letzte von zehn Songs, die keinerlei künstliches Aufhebens machen müssen, um die große Bühne zu beanspruchen, die dank ihrer absoluten Natürlichkeit genau dort landen und verweilen werden, wo sie hingehören: in Deinem Ohr. Die wahnsinnig dichte Atmosphäre des Albums sorgt dafür, dass man schon nach wenigen Durchläufen die ganze Platte auswendig mitsingt und -summt. Die vielleicht beste Medizin gegen unerwünschte Ohrwürmer ... hier ist sie!

(Pascal Bremmer)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Lookout mountain
  • Purple moon
  • Sweet thing
  • The unknown
  • Momentary bliss
  • Windows are mirrors

Tracklist

  1. Lookout mountain
  2. Purple moon
  3. Sweet thing
  4. The unknown
  5. Red rock road
  6. Der Stern
  7. Dream of hell
  8. Momentary bliss
  9. Star light
  10. Windows are mirrors
Gesamtspielzeit: 32:58 min

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