Wilco - Cousin

Sony
VÖ: 29.09.2023
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10
8/10

Eine eigene Geschichte

Es war alles gar nicht so schlimm. Als Wilco 2022 ein knapp 80-minütiges Country-Doppelalbum ankündigten, entstand mancherorts schon die Angst, die Frührentenanträge würden sich von selbst ausfüllen. Falscher Alarm, wie jenes stilistisch ausgefranste und lebendig eingespielte "Cruel country" bei Release klarmachte. Nach diesem Muster müsste "Cousin" eigentlich eine riesige Enttäuschung sein. Zum ersten Mal seit über zehn Jahren banden die Chicagoer Indie-Helden eine Person von außerhalb in den Aufnahmeprozess ein – und zwar niemand Geringeres als die nicht nur von Jeff Tweedy bewunderte, wahrlich grandiose Waliserin Cate Le Bon, die als Produzentin das Versprechen einer wiederentdeckten Experimentierfreude mitbringt. Dieses wird, so viel lässt sich verraten, erfüllt, auch wenn die Platte subtiler daherkommt, als man es bei der Beteiligung der Art-Punk-Exzentrikerin erwartet hätte. Offenbar ist das einzige auf Wilco-Alben anwendbare Muster, dass sie bar regelbestätigender Ausnahmen mit Katzen-Covern immer großartig sind.

Und doch ist es ein neuartiges Kribbeln, das "Cousin" gleich zu Beginn auslöst. Der Opener "Infinite surprise" erhebt sich aus einem dichten, dennoch ausdifferenzierten Klangnebel, der von "Yankee hotel foxtrot" herübergeweht sein könnte, ehe sich Tweedys unendlich zärtlicher Gesang auf die knisternde Gitarre legt. Später kommt das für Le Bon charakteristische Saxofon dazu, es zerrt an allen Enden, der Song gewinnt immer mehr an Zug und löst sich im stotternden Feuerwerk auf. So weit nach draußen wagt sich die mit vertrauter Americana-Brillanz strahlende Single "Evicted" nicht, lädt aber ein paar inspirierte Saitensprünge auf die Veranda ein. Trotz der evozierten Wärme bleibt dem Erzähler das Lachen im Hals stecken: "I'd laugh until I'm old if it wasn't my life / If it wasn't me in the mirror." Als "Cousin der Welt" sieht sich Tweedy inzwischen: So richtig nahe steht er ihr nicht, kalt lässt sie ihn genauso wenig. "We're the dirt you save / To fill an empty grave", wirft er ihr ernsthaft verletzt im post-punkig angesägten Titeltrack vor.

In "Ten dead" dominiert hingegen die Resignation. "I woke up this morning / And I went back to bed", murmelt der 56-Jährige über dem sanften Piano, bevor der Song nicht zum letzten Mal in einen abgründigen Instrumentalpart kippt. Es ist sinnbildlich für das faszinierende Wesen der gesamten Platte: Die Kompositionen sind zurückhaltend und oft simpel, aber in den Arrangements passieren ganz wunderbare Dinge. "Sunlight ends" projiziert eine relaxte Ballade auf einen Drumcomputer-Regenbogen, der am Ende den ganzen Himmel ausfüllt. Die repetitiven, niedergeschlagenen Gitarren in "Levee" klingen im Kontrast dazu wie die Sonnenfinsternis im Jangle-Pop-Land. Tweedys Stimme ordnet sich oft unter, versteht sich mehr als Textur. Erst nach eineinhalb Minuten sprudelt sie in den akustischen Wasserfall von "A bowl and a pudding" rein, der ungerührt einfach weiterfließt. Nicht der einzige Moment auf "Cousin", in dem man das Gefühl hat, das frostige Covermotiv würde vor den eigenen Augen auftauen.

Es ist nicht so, dass Le Bons Synergie Wilco zu völlig ungeahnten Gipfeln treiben würde – dafür liegt die eigene Messlatte auch einfach viel zu hoch. Vielmehr haben sie gemeinsam ein Werk erschaffen, das die Bandgeschichte bruchlos weiterschreibt, ihr neue Facetten ohne Aufopferung des Eigenen hinzufügt – und im Schlussdrittel noch einmal besonders aufhorchen lässt. "Pittsburgh" dürfte einen kurzen Weg zum Bandklassiker haben, schmeißt zwischen seinem grazilen Fingerpicking den Noise-Staubsauger an und verschleppt den Rhythmus so, als würde die ganze besungene Stadt auf ihm lasten. Ganz anders schließt "Soldier child" als federleichter Shuffle an, auch wenn Nels Clines Solo ein paar graue Wolken heraufbeschwört. Diese sind im triumphalen Western-Galopp von "Meant to be" jedoch wieder komplett verflogen. Tweedy feiert die Liebe und verabschiedet "Cousin" mit einem Gefühl trostvoller Zuversicht, das bei Wilco sowieso immer gewinnt. Es wird alles gar nicht so schlimm werden.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Infinite surprise
  • Levee
  • Pittsburgh
  • Meant to be

Tracklist

  1. Infinite surprise
  2. Ten dead
  3. Levee
  4. Evicted
  5. Sunlight ends
  6. A bowl and a pudding
  7. Cousin
  8. Pittsburgh
  9. Soldier child
  10. Meant to be
Gesamtspielzeit: 42:54 min

Im Forum kommentieren

dryeye

2024-01-18 18:57:00

zweiter versuch....

Wilco Meant To Be Official Music Video

dryeye

2024-01-18 18:54:12

hier ein neues video....

Wilco "Meant To Be" Official Music Video // The Rink, Chicago

humbert humbert

2023-12-18 23:11:43

https://www.youtube.com/watch?v=GoPE6gkNCVM

Schöne Liveversion von ‚Pittsburgh‘. Das Lied bleibt für mich das große Highlight des Albums und solche Lieder sind auch der Grund, warum ich immer wieder in jedes neue Album reinhöre. Auch immer wieder beeindruckend, wie gut sie live klingen. Da sitzt jeder Ton.

AliBlaBla

2023-11-04 11:14:17

@Velvet Cell
Seh ich auch so, hatte es etwas liegen lassen, jetzt ein paar Mal gehört- und SUPER! Glenn könnte sich noch mehr ausleben, aber ich bin mehr als zufrieden...

VelvetCell

2023-11-03 23:01:05

Rotiert bei mir immer noch regelmäßig. Sprich: Vinyl ist mittlerweile angekommen. Pressung ist super. Und das Album über die Anlage zu hören, tut der Sache auch noch mal gut. Für mich sind Wilco BACK. Bestes Album seit Whole Love.

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